Adam Budak
Einführung zur Ausstellung "Strukturen der Erinnerung"
Manggha Zentrum, Krakau
2006

Die Mikroerzählungen des Gewöhnlichen.
Erkundung von Strukturen der Erinnerung.

In ihrer Arbeit als Fotografin und Bildhauerin gilt Sabine Richters Interesse der Koexistenz unterschiedlicher Formen. Deren Gegenüberstellung wird innerhalb eines in eine Matrix der Formen und Strukturen verwandelten Rahmens zur vorherrschenden Erzählung. Die Strenge der klassischen Geometrie korrespondiert immer mit der Fluidität der Wahrnehmung und entwirft auf diese Weise ein Bild als unheimliche Mischung aus Präzision und Zufall. Steter Fluss und ein Oszillieren zwischen einer zweidimensionalen Oberfläche und einer dreidimensionalen Konstruktion aus Licht und Stahl sind ein charakteristisches Merkmal von Sabine Richters Fotografien, die, mit ihrer diskreten Poesie, die ein emotionales Potential in sich birgt und gleichzeitig die Existenz der flüchtigen Form begründet, die Schatten bannen. Hier kontrolliert und leitet das Licht – insbesondere das Sonnenlicht – die Struktur und lenkt somit die Sinne und den Geist auf ihrer Reise durch imaginäre und reale Räume. Es erfindet tatsächlich einen neuen Raum, ein neugeborenes Territorium, noch unbestimmt, aber voller Begeisterung über sein Dasein und seine körperliche Präsenz – ein Fest der Beleuchtung. Schatten ist sowohl Gegenwart als auch Erinnerung, elementarer Seinsbeweis und dessen Verdopplung; so als wäre er Archivmaterial und treuester Begleiter. Die Fotografin fängt ein solch wiederholtes Bild behutsam ein, so als würde sie versuchen, den primären Eindruck und die ursprüngliche Wahrnehmung eines flüchtigen Augenblicks festzuhalten. Auf den ersten Blick ist das Bild durchzogen von Einsamkeit und seine emotionale Intensität das Abbild einer gewissen Melancholie. Doch auf diese Weise entwirft es stets einen Beziehungsraum und birgt Vielfalt und Gemeinsamkeiten in sich, was durch die harmonische und rhythmische Abfolge von Grundelementen die gesamte Umgebung in eine vielstimmige Sinfonie verwandelt. In diesem fotografischen Gebäude aus geistigen und physischen Zusammenhängen, die durch ihre Unsichtbarkeit und gleichzeitige formale Allgegenwart im urbanen Gewebe faszinieren und immer eine Vielzahl an Bedeutungen und Wahrnehmungen in sich bergen, werden Anschlusspunkte und Verknüpfungen durch Wiederholung hervorgehoben, so als würden sie einem tranceartigen und minimalen Rhythmus unterliegen.

Beim Fotografieren ihrer Sujets interessiert sich Sabine Richter für die sich selbst erzeugende Form, eine Form, die ein mosaikartiges Konglomerat aus räumlichen Emotionen und Gefühlen eingeht. Zu scheu, um seine vollständige Gestalt auszudrücken, zu zart, um seine geheimen Winkel preiszugeben, ist der Raum (und die Zeit ...) von einem Netz unsichtbarer Gesten bedeckt und erscheint nur ganz unversehens und unerwartet, gleich einem unbemerkten und unschuldigen Gesichtsausdruck, der innere Wahrheiten und Sehnsüchte verrät. Zwischen Instabilität und Gleichgewicht, friedlicher Stille und eruptiver Dynamik, erscheint das Architektonische als Fragment oder Spur, als ein Beweis für Solidität und als poetisches Element, das hinter verführerischen Krümmungen lauert, wo das Licht sich mit seiner wandelbaren Intensität verschwört. Sabine Richter fetischisiert die Oberfläche, verwandelt sie in eine Projektionsfläche der Erinnerung, auf der sich eine Spiegelung vollzieht und – verstärkt durch den ungewöhnlich großzügigen Blick der Künstlerin – eine neue Erzählung beginnt. Dies ist ein Spiegel der Gegenwart, der sublimierte Versuch, die Zeit einzufrieren und sie im Rahmen einer fotografischen Wirklichkeit zu prägen. Sabine Richters Arbeit ist voll von Oberflächenspannungen, wo alltägliche Strukturen vom Auge der Kamera kontrolliert und von einem Rahmen und dessen Strenge gegliedert werden. Auf diese Weise erlebt der Raum einen subtilen Prozess radikaler Subjektivierung und das Private trifft bei diesem Versuch, die Geschichte eines introspektiven Außen zu erzählen, eines urbanen Sujets, gefangen zwischen dem Alltäglichen und dem Universellen, mit dem Intimen zusammen. Er bleibt jedoch seltsam still, wahrlich phänomenologisch und intuitiv, gezähmt aber mächtig, bruchstückhaft aber unabhängig, und in seinem überwältigenden Lyrizismus äußerst ausdrucksstark. Reduktion ist hier am Werk, eine fruchtbare Plattform der Potentialität und eine sehr überlegte und sparsame Formensprache, die ganz bewusst das Abstrakte mit dem Konkreten und Realen verflicht.

In ihrer Krakauer Serie konzentriert sich Sabine Richter auf das Marginale, das Vergessene, und vielleicht auf das Vernachlässigte oder das Degenerierte. Baustellen – unvollendete und auf ihre Fertigstellung wartende Orte – sind ihre Lieblingsschauplätze, immer überhöht oder in Beziehung gesetzt zum „Anderen“ ringsumher oder einer kompositorischen Umkehrung. Hier tritt auch das Historische in Erscheinung, als ein gleichermaßen persönliches wie kollektives Konstrukt, das das Gedächtnis und das Erinnern mittels einer faszinierenden Oszillation zwischen Erscheinen und Verschwinden, Erzähltem und Unausgesprochenem strukturiert: eine Geschichte der unmöglichen Wiederkehr. Die schillernde Spiegelung des führenden polnischen Theaters, einem einzigartigen Beispiel für die Architektur der Wiener Sezession in einer Pfütze Regenwasser auf dem Pflaster des Plac Szczepanski; die wolkenartigen Formen auf der warmen Oberfläche des Planty Parks, die mit der Atmosphäre einer einzigartigen Stadt kokettieren, oder geisterhafte menschliche Gestalten, phantomartig wie die Ikonen einer (verlorenen) Gesellschaft, gefangen im zu engen spiegelnden Rahmen eines Schaufensters. Es ist eine Fotografie der Sinne: Man spürt förmlich die milde Wärme des Sonnenscheins im Planty Park, man atmet die Morgenluft über den Dächern von Krakau, man kann die scheinbar bedeutungslosen Winkel von Straßen, auf denen normalerweise hektisches Treiben herrscht, intensiv erfahren. In ihrem fotografischen Porträt von Krakau gibt sich Sabine Richter in einem stärkeren Maße als je zuvor als Fotografin des Gewöhnlichen zu erkennen: Indem sie, im Sinne von Michel de Certeau, sowohl die Rolle des Voyeurs als auch des Spaziergängers annimmt, konstruiert sie auf behutsame Weise eine Mikroerzählung, die mit den Bewegungen des durch die Stadt flanierenden Körpers verknüpft ist; eine Art „poetische Geografie“ urbaner Orte, an denen das Verlangen, die Stadt als Text zu lesen, mit dem Versuch zusammenfällt, eine fast mythische Erfahrung des Raumes zu erfassen.

 

 

Adam Budak
Curator of the exhibition "Structures of memory "
Manggha Center, Krakow
2006

The Micro-narratives of the Ordinary.
Tracing Structures of Memory.

In her photographic and sculptural work, Sabine Richter is interested in a coexistence of different forms, and their mutual confrontation becomes a dominant narrative in a frame turned into a matrix of shapes and structures. The rigidity of classical geometry always corresponds with the fluidity of perception, thus conceiving an image as an uncanny melange of precision and chance. Constant flux and oscillation between a two-dimensional surface and a three-dimensional construction built of light and steel is a characteristic feature of Sabine Richter’s photographs that master shadows with their discreet poetry which carries an emotional potential while rationalizing the existence of an ephemeral form. Here light – and especially the sun light - controls and moderates the structure, and consequently it navigates the senses and mind in their journey through imaginary and real spaces. It does invent another space, a new born territory, obscure yet, but euphoric with its life and volume, a ceremony of illumination. Shadow is both a presence and a memory, elemental proof of being and its duplication, as if an archive material and the most faithful companion. The photographer carefully catches such repeated image, as if trying to save a primary impression and perception of a fleeting moment. The image is at the first sight soaked with loneliness and a certain melancholy maps its emotional intensity, but as such it always designs a relational space, and involves a diversity and mutuality, which soon turns an entire surrounding into a polyphonic symphony with a harmonious rhythmic sequence of basic elements. Connecting points and linkages, repeated as if with a trance-like and minimal rhythm, are emphasized in this photographic edifice of mental and physical assemblages that intrigue with their both invisibility and the formal omnipresence within an urban tissue, always carrying multiple meanings and sensations.

Photographing her subjects, Sabine Richter is interested in a self-generating form, a form which enters a mosaic-like conglomerates of spatial emotions and feelings. Too shy to express its complete shape, too delicate to expose its secret corners, space (and time…) is covered by a net of invisible gestures, only suddenly and unexpectedly appearing as if unnoticed and innocent grimaces of people’s faces that betray their inner truths and desires. Between instability and balance, peaceful stillness and volcanic dynamics, the architectural appears as a fragment or a trace, a proof of solidity, a poetic element lurking through seductive curves where light conspires with its changeable intensity. Sabine Richter fetishizes a surface, turning it into a screen of memory, where reflection occurs and a new narrative begins, strengthen by an unusually generous gaze of an artist. This is a mirror of presence, sublimated attempt of freezing time and imprinting it within a photographic frame of reality. Sabine Richter’s work is filled with the surface tensions where ordinary structures are controlled by the camera eye and ordered by a frame and its rigour. As such, the space undergoes a subtle process of a radical subjectification, and the private coincides with the intimate in this attempt at telling a story of an introspective exterior, an urban subject caught between the everyday and the universal. It remains bizarelly silent though, truly phenomenological and intuitive, tamed but powerful, fragmented but independent, very expressive in its overwhelming lyricism. Reduction is at work, a fertile platform of potentiality, a very reasonable and spare formal language which consciously intertwines the abstract with the actual and real.

In her Krakow series, Sabine Richter concentrates on the marginal, the forgotten, perhaps the neglected or the degenerated. The construction sites - the unfinished and awaiting completion locations – are her favourite sets, always being elevated or juxtaposed with the “other” around or compositional reversal. Here also the historical appears, as a personal but also a collective construct which structures the memory and remembering through an intriguing oscillation between appearing and disappearing, told and unspoken: a story of impossible returns. The shiny reflection of a unique example of a Secession architecture of the leading Polish theatre in a dirty pawn of a rainy water on the Plac Szczepanski pavement; the clouds-like shapes on the warm surface of the Planty park flirting with a unique city’s ambiance, or ghostly human figures, phantoms-alike as if icons of a (lost) society, imprisoned in the too narrow mirroring frame of the shop window. It is a sensational photography: one can feel the smoothing warmth of the Planty sunshine, one can breath the air above the Krakow roofs at dusk, one can intensively experience the seemingly insignificant corners of usually hectic streets. In her photographic portrait of Krakow, Sabine Richter more than ever reveals herself as a photographer of the ordinary: taking on, after Michel de Certeau, a task of both the voyeur and the walker, she carefully constructs a micro-narrative, linked to the moving and strolling body, a sort of “poetic geography” of urban sites where a desire to read an urban text coincides with an attempt at mapping almost mythic experience of space.