Prof. Eugen Gomringer
Eröffnung der Ausstellung "lies nicht mehr – schau"
kunst galerie fürth | 29. Juni 2012


Meine Damen und Herren,

iederholt ist mir in den letzten Tagen zur Einladung nach Fürth die Aufforderung „lies nicht mehr – schau“ ins Haus geflattert. Ich fühlte mich betroffen, denn ich bin Leser wie Schauender. Wem dieser mutwillig-unwillige Ausruf zu verdanken ist, weiß ich mittlerweile, es ist ein Wort von Paul Celan. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass Sabine Richter einmal eine solche Aufforderung verfasste.. In der Tat ist über die fotografische Kunst von Sabine Richter ein ansehnliches Konvolut von Texten entstanden, alle recht klug und theorielastig. Ich will die Leser und Schreiber allerdings in gebotener Kürze verteidigen, denn die Kunsthistorikerschule von Max Imdahl in Bochum z.B., die das Schauen eng mit dem Lesen verband, hat doch interessante Ergebnisse erbracht. Lesen kann dem Schauen Winke geben, wohin zu schauen ist, und schauen kann zum Lesen verführen. Aber das sind jetzt Verteidigungszüge und zweifellos hat der- oder diejenige recht mit dem munteren Aufruf „Schau!“.

War das aber eigentlich vor den Arbeiten von Sabine Richter nicht schon immer so: man hatte sich auf das Schauen verlegt und man lässt die Wahrnehmung sehen, was ist, und was nicht zu sehen ist. Da führen Flächen weiter, kommen auch von irgendwoher herein. Woher? Aber Tatsache ist, sie sind da, konkret, sie sind hellgrün und die dunkelgrünen Gewächse, mit denen sie es zu tun haben, sind wie gelöstes Haar. Flächiges, Architektonisches scheint sich behaupten zu müssen gegen das andere, Lebhaftere, oder es gibt da Flächen angeschnitten, die zu etwas weit Größerem gehören. Die Seherin Sabine hat sich eine Fläche hereingeholt, hineingezogen, gedreht, damit sie zu einer anderen Fläche passt und dass dann auch noch ganz verzackt die Fläche himmelblau dazu kommt. Eins, zwei, drei zählt man die Kulissen. Mit drei Elementen, jedes scharf konturiert, farblich unterschiedlich, zweiflächig, das Dritte bewachsen, andersartig, bildet die Fotografin – jetzt also die Künstlerin – eine Konstellation fest gefügt, aber nicht nach Schema. Die langen Trennlinien, die scharfen konvexen Winkel sind reine Schaugegenstände, die sich gegenseitig aufbauen.

Schon bald haben wir einmal erfahren, dass Sabine Richter von der Bildhauerei herkäme, also von der Kunst der konkreten räumlichen Beziehungen. Sie ist deshalb vor allem Topologin und an Beziehungen von Elementen interessiert. „Sie setzt in Beziehung“ wäre eine gültige, wenn auch erst halbfertige Signatur ihrer Arbeit. Dass ich sie vorhin ostentativ als Künstlerin bezeichnete, soll den Schritt von der Fototechnikerin, einer exzellenten Technikerin, zur Künstlerin von Geblüt bezeichnen. Es steckt sogar ein gerüttelt Maß an Konkretheit in ihr. Wenn wir die Kunst heranziehen, werden plötzlich viele Bezüge der Arbeiten von Sabine Richter sichtbar, aktualisiert, lebendig. Es ist u.a. der Punkt der Wandlung des wirklichen Gegenstandes durch festlegende, dokumentierende fotografische Technik zum Bildgegenstand im künstlerischen Maßstab, der die Diskussion bestimmt.

Ganz klar deshalb, dass bei „insight-out“, der dreiteiligen Serie, die Fotografin, die sie natürlich bleibt, die Künstlerin voraussetzt, dass sie von der konkreten Künstlerin Empfehlungen über Flächenbeziehungen, Winkelbezüge und Transparenz empfangen hat. Sie setzt um, will ich jetzt einmal in einer Steigerung der Perspektive sagen, was einst Vantongerloo, der von Max Bill hoch verehrte belgische Künstler, auf seine Weise erreichen wollte. Georges Vantongerloo ist für diese Vorgänge der große Geheimtipp geblieben, der Künstler, der hoch in den Norden fuhr, um Transparenz und Licht zu erleben. Eine interessante aktuelle Situation der Arbeiten von Sabine Richter macht heute sichtbar, was einmal von grundauf vieles veränderte.

Margit Staber, einst Mitarbeiterin von Max Bill, hat sich Vantongerloo ebenfalls angenommen und in einem Essay wichtige Erkenntnisse versammelt. Er benutzte Geometrie, um zu realisieren, was er „le sens des rapports équilibrés“ (der Sinn der Beziehungen im Gleichgewicht) nannte. Das muss um 1917 gewesen sein. Aus 1919 stammt eine Plastik „rapport des volumes“ (Beziehung der Volumen), ein Schlüsselwerk für jenen Typus, der sich aus einem tektonischen Rhythmus aufbaut. Meine Bemerkungen wollen nicht den Künstler Vantongerloo besonders vorstellen, sondern sind ein Hinweis auf die Gestaltungsfrage, wie sie sich aus den Arbeiten von Sabine Richter in ihrer Beziehung zu Künstlerkollegen herauslesen lässt, verzeihung, heraussehen lässt.

Wer in ihren Arbeiten den wirklichen Gegenstand vermisst oder zu bestimmen versucht im Sinne von wovon ging sie denn aus? Wird zum Beispiel an Antonio Calderara erinnert. Reimer Jochims hat ihn mit einem fundierten Text vorgestellt. Calderara ist letztlich bekannt geworden durch Farbflächen, so gefühlt wie gemalt und meist als Komposition zu sehen von einer größeren Fläche und kleinen Quadrätchen, die als Partikel die sublimen Verhältnisse empfinden lassen. Jochims sieht Calderaras Wirkung so:
Der laute, verlogene Lebensbetrieb wird in seinen Bildern konfrontiert mit bewegter Ruhe in einfachen, ausgewogenen Beziehungen. Die Zartheit, Klarheit, Friedfertigkeit der Bilder ist der Entwurf einer psychosozialen Realität, nach der wir uns wohl alle sehnen.

Und woher das alles stammt? Es stammt von figurativen Bildern, von Kompositionen mit einer Dame oder von der schönen, weitgehend abstrahierten Landschaft mit Häusern von Calderaras Umgebung. Das kleine Dorf Vaciago oberhalb des Orta-Sees. Er nannte als Grundkategorien den Raum, das Licht und Zeit oder Bewegung. Und erst als 56jähriger hat er sich ganz lösen können und kam zu der Zartheit und Klarheit der Flächen und der einfachen Beziehungen. So wechselte für Calderara der Bildgegenstand von einem figurativen Gegenstand zum reinen Sehgegenstand mit seinen anderen Dimensionen. Wenn wir die Treppe von Sabine Richter oder vielleicht das Video Screen erleben, wird uns der Typus „Kunst der Fotografie“ bewusst in einem Sinn, der tatsächlich Kunst der Kunst, aber ohne Ideologie, vergleichbar ist.

Wir wollen nach Nennung solch zarter Szenen in Kunst und Fotografie-Kunst nicht vor den Stahlgerüsten der massiv-schönen Grid-Reihe erschrecken oder gar von ihnen ablenken. Sie scheinen zu den älteren Arbeiten zu gehören und zeigen an, dass das Sehen und Festhalten der Realität immer noch das gnadenlose Geschäft der Fotografie ist. Doch wer da immer weiterhin meint, Fotografie halte unbeweglich fest, sie sei fertig und in jedem Bild vollendet, kommt ins Fragen. Natürlich ist das der Grundunterschied zur Kunst, deren Bilder nie fertig sind – nur die Künstler selbst täuschen sich das gerne vor. Ich meine, dass die harten Grids von Sabine Richter unfertige Bilder sind. Sie können nicht festhalten, was sie eigentlich sind. Auch sie unterstehen dem Paradigma von Josef Albers, der Unterscheidung von factual facts und actual facts, facts die sich verhalten wie Sein und Schein, wie Realität und Wirklichkeit.
Das heißt, dass die Grids, die Gitter aus Stahl, die Realität sind, welcher Sabine Richter mit Künstlerauge für Form und Struktur begegnet ist, und dass die Grids auf den Bildern bzw. die Bilder sind, die wir als aktuelle Tatsache der Fotografie sehen. Sie sind die Tatsache unserer Begegnungen. In der Malerei sind sie die Farbe, die auf uns wirkt, nicht die Farbe, die der Künstler aus der Tube drückt oder auf der Palette versammelt. Gerade dieser Gegensatz zwischen faktisch-physischer Realität und psychischer Wirkung der Wirklichkeit spielt für die Arbeit der Künstlerin eine entscheidende Rolle. Sie hält als Mensch der Realität immer wieder an der realistischen Begegnung fest. Durch fotografische Medien und künstlerisches Erleben entstehen die Wirklichkeiten der Bilder als Verfremdung, wenn man so will. Aber der Ursprung des realen Objekts ist erkennbar. Sie geht nicht so weit, wenigstens weiß ich nichts davon, den realen Gegenstand total aufzuheben und nur den Bildgegenstand wirken zu lassen, wie das etwa der Fall ist bei den Arbeiten von James Turrell. Dort ist der Gegensatz zwischen factual facts und actual facts aufgelöst.
Dass diese allgegenwärtige Raumbildung durch Farbe gewünscht wäre, ist aber durchaus nicht überall der Fall. Vor allem fehlt dann die Orientierung im Raum. So hilft uns die leise Antönung einer realen Kante in einem Bild von Richter uns erstens im Bild selbst zu orientieren und zweitens ist der Rückblick zum Realen auch so etwas wie Datierung. Es hat stattgefunden da und da, dann und dann, entspricht einem historischen oder allegorischen Bildgegenstand. Und die Kunst versteht sich doch immer noch als die Wie-Frage, nach der Entscheidung der Was-Frage.

Nach meinem Verständnis schiebt sich in der Fotografischen Arbeit noch eine dritte Entscheidung ein, auf die in den Theorien besonders eingegangen wird, die Frage der Determination durch die Apparatur. Weil die Thematisierung der festgelegten Apparatur, so z.B. in der Sprache die Schreibmaschine, die das Fehlermachen dem Schreibenden überlässt, gewiss von Bedeutung ist, wurde sie zur Zeit einer Hochblüte der semiotischen Analysen auch für die Malerei diskutiert. Zum Beispiel hatte Max Bense einmal – als Promotor der Informationsästhetik an der Ulmer Hochschule für Gestaltung - in Zürich, wohin er von den Spitzen der konkreten Theorie zum Vortrag eingeladen war, die Frage zu beantworten: Wie geschieht Kunst? Er verblüffte die Zuhörer mit der Antwort, dass Malerei ein reines Transportproblem sei. Es handle sich darum, die Farbe von der Palette auf eine bestimmte Stelle der Leinwand zu transportieren. Mich hatte damals als Bense-Adept diese Antwort nicht weiter verwundert, wohl aber wurde sie von den Übrigen als arroganter Scherz verstanden.

Es gibt nun aber Arbeiten von Sabine Richter, die – z.B. Buda – ihre Entstehung und ihre Zustände als Wahrnehmungsgegenstände gerade einer gegenteiligen Energie verdanken. Sie sprechen den Wahrnehmungsmechanismus mit subtiler Subjektivität an. Da wird kein Subjekt zugunsten eines anderen Mediums aufgehoben. Wir können aber Teil des Werks sein, indem wir die gelegten Spuren, ähnlich wie bei Paul Klee, als eigen empfinden.

Meine Damen und Herren, wer das Schauen liebt statt das Lesen, gerät in ein sehr weites Feld, das ihm offener steht als das Lesefeld. Es scheint mir ein Glücksfall zu sein, darin dem „Sinn der stabilisierten Beziehungen“ zu begegnen, ihn an sich mit zu empfinden. Darin bewegt sich Sabine Richter und wir beobachten, wie sie sich selbst eigene Parameter setzt und diese werden nicht zuletzt von einem Schauen und Beobachten mit Künstleraugen bestimmt, weshalb man also z.B. an Calderara oder Vantongerloo, weniger an James Turell denkt.

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Prof. Eugen Gomringer
Die Foto-Konstellationen von Sabine Richter


Die erste Begegnung mit den Fotoarbeiten von Sabine Richter ließen mich etwas unschlüssig werden. Sie gefielen mir, aber ich wusste nicht, warum. Ich hatte seit den Jahren an der Hochschule für Gestaltung in Ulm Fotobilder von Otl Aicher und Rudolf Schröter im Bewusstsein gespeichert. Anderseits schrieb ich auch einen Text über Robert Häusser. Ich finde, dass keine andere Kunst so viele Berührungen mit der Lebenswelt hat und es deshalb so schwer macht, sich für die eine oder andere Wahrnehmungsweise zu entscheiden. Das heißt, seine Identität zu finden da draußen in der Lebenswelt. Beim zweiten Schub der Bekanntschaft mit den neuen Werken von Sabine Richter ging mir ein Licht auf. Es wurde mir klar, was mir diese Foto-Kunst zu sagen hatte. Es ist die Kunst der Konstellationen, die der meinigen auffallend gleicht bzw. es noch besser macht, als es mir geglückt ist. Konstellationen zu bilden aus der Begegnung mit mit der Umwelt – Umwelt gleich Außenwelt und Innenwelt – mit den Mitteln der Kunst bzw. der Sprache bedeutet für mich, Beziehungen herzustellen zwischen einigen Dingen, ihre Existenz zu erkennen, ihre Eigenart hervorzuheben. Es ist sehr befriedigend, wenn es gelingt, Fragmente herzustellen, die dem Ganzen, das im Moment die Welt ist, entnommen sind. Es orientiert, gibt Festigkeit. Gibt letztendlich dem Dasein Sinn.

Prof. Eugen Gomringer
Sabine Richter's photo constellations


My first encounter with Sabine Richter's photos made me a little bit   uncertain. I liked them, but I did not know why. For all my years at the Hochschule für Gestaltung in Ulm, I had stored all the photo images by Otl Aicher and Rudolf Schröter in my mind. On the other hand, I had also written a text about Robert Häusser. In my opinion, no other art has so many connections with the immediate world, making it so difficult to decide on one specific perception. It means finding one's identity in the surrounding environment. The second time I saw the new work by Sabine Richter it hit  me. I realized what this photographic art had to say. It is the art of constellations, strikingly similiar to my own. Or rather, even more successful. Constellations, formed from encounters with the inner and outer environment through art and language, mean for me the forming of connections between things, recognizing their existence, and emphasizing their particular nature. It is very satisfying to be able to produce fragments which are taken from a whole, it is the world in the moment. It gives direction, and firmness. Eventually it gives meaning to our existence.



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Prof. Eugen Gomringer
Einführung zur Ausstellung Kunst im Werk
Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie, Kunsthaus Rehau
Loewe AG Kronach
2001


meine damen und herren,
sie werden es alle schon beobachtet haben: die heutige kunst, wo sie uns ernsthaft als solche begegnet, ist uneinheitlicher denn je, und das heisst auch: von künstler zu künstler überraschend, individuell, einer schnellen eingliederung geradezu entfremdet. wer noch den überblick der letzten jahrzehnte besitzt, weiss, wie man nicht nur in klassischen gattungen, sondern auch in entwicklungsspuren denken und diskutieren konnte. dagegen spricht man heute oft von der orientierungslosigkeit und von fehlenden charakteristiken. doch es gibt auch hier ein andererseits! denn andererseits ist ebenfalls unverkennbar, dass diese heutige kunst in all ihrer vieldeutigkeit sogar ein ganz bedeutendes charakteristikum aufweist. ich nenne es ein bewusstsein zwischen rückwärts blickend und vorwärts gewandt, eine aktualität, die bewusst mit der vergangenheit umgeht, sich aber auch in selbstverständlicher weise mit dem geschehen von heute befasst, zum beispiel mit der digitalen kommunikation. anders gesagt: die kunst ist mehr denn je zuvor schnittstelle zwischen immer noch präsenter historischer ästhetik und einer ästhetik, die vom heutigen rhythmus, einer tendenz zur transparenz und vom schnellen wechsel der bilder und damit einer neu sich anpassenden wahrnehmungsfähigkeit beeinflusst wird. andere einflüsse, zum beispiel von multikultureller herkunft, die ebenfalls weltweit zu beobachten sind, führe ich heute nicht an, denn die kunst, auf die wir uns heute und hier konzentrieren,die kunst von sabine richter, hat sich in einem kulturellen rahmen entwickelt, der uns eigentlich vertraut ist, wenn sich auch die sprache der kunst vohrnehmlich in syntax und semiotik gewandelt haben mag, und auch die materialien, die hardware, der aktuellen technischen produktion entstammen. sabine richter ist, wenn wir ihre biografie zu rate ziehen, eine fränkische künstlerin und die bisherigen stationen ihres weges sind coburg, nürnberg, würzburg und wieder nürnberg. mit ihren arbeiten verbreitet sie jedoch eine atmosphäre, die man nicht auf franken allein beziehen möchte, sondern die im besten sinne europäisch ist. und damit meine ich: schnittpunkt zwischen europäischer pionierzeit und amerikanischer concept art und technizität. das ergibt ein konstruktives werk, das weder im historischen sinne konstruktivistisch noch im jüngeren sinne dekonstruktivistisch ist. ein zugang zu ihren arbeiten ist die feststellung der hilfsmittel, der materialien, der machart und der tendenz zur dematerialisierung. sie arbeitet mit der polaroidkamera, mit fotografie allgemein, sie collagiert und montiert, und sie ist auch bildhauerin, wenn das heute auch nicht präsent wird. Sie verfügt über die aktuellen methoden, etwas zu analysieren und zu sezieren, um es den erfahrungen der zeitgenössischen realität entsprechend wieder zu synthetisieren. überhaupt scheint dieses wieder-zusammen-bringen nach der analyse, das neu zusammensetzen, ein grundzug ihrer arbeit zu sein. es ist die art der neuen synthese, welche der wahrnehmung von aktueller realität entspricht. ein überzeugendes beispiel diese vorgehens ist in der siebdruckerie mit dem titel "umkehrung" zu sehen, welche man schon auf der einladung kennenlernen konnte. in dieser serie sehen wir eine grundform im rechteckformat. in diesem rechteck sind zwei ganz unterschiedliche flächen auszumachen, die eine ist transparent, die andere , die von der transparenten fläche teilweise überdeckt wird, ist mehrfarbig. auch in ihrer kontur sind die beiden flächen unterschiedlich. die überdeckte fläche ist in sich von mehrschichtigem aufbau, der einem dreidimensionalen motiv abgewonnen sein dürfte. im grundrechteck können diese beiden unteschiedlichen flächen durch umkehrungen und translationen rätselhafte positionen der kontamination, der verschmelzung und überkreuzung einnehmen. Umkehrung und kontamination, kontamination durch umkehrung ist, was ich vorhin mit der wahrnehmung aktueller reälität andeuten wollte. sabine richter hat sich diese wahrnehmung zu eigen gemacht. das heisst, die gegenstände unserer wahrnehmung haben kein festes gesicht, sondern verändern sich fortwährend zu immer neuen konstellatioenen, dass sich von fall zu fall, von blatt zu blatt eigenartige neubildungen ergeben. das zu veranlassen ist der findigkeit und dem spieltrieb der künstlerin überlassen. ein ähnliches sehen ergibt sich aus der "sequenz 1" von 1993/98, hergestellt mit polaroid, tintenstrahldruck, multiplex und acrylglas. wir sehen angeschnittene raumstrukturen mit farbflächen. in keiner der sequenzen ist gültig für alle auszumachen, wie flächen, winkel, licht und schatten sich topologisch verhalten. aber alle teile zusammen halten eine komplexe situation fest, oft sogar mit einer art passer von einer teileinheit zur nächsten. Besonders reizvoll erscheint das vorgehen mit collagierten teilen, z.b. bei den sogenannten "rounabouts", worunter sowohl karusell wie auch kreisverkehr verstanden werden kann. hier sind es teile eines kinderkarussels inklusive kreisförmiger schatten, die so anenandergefügt werden, dass sich aus "rounabout" neue fortsetzungen ergeben und sich - semiotisch gesprochen - neue und grössere zeichen ergeben. Erinnern wir uns bei den"umkehrungen"an den begriff der kontamination, wäre jetzt an den zeichenprozess der superisation zu erinnern. Das heisst, es wird durch die ganzheitsbildung einer menge von einzelnen zeichen eine neue struktur, eine neue konfiguration erwirkt. Es ist aber nicht das ensemble als geschlossenens ganzes ersichtlich, sondern es entsteht eine ganzheit in zeitlicher abfolge. je länger man sich mit der ästhetik von sabine richter befasst, umso mehr möchte man begriffe der semiotik, der zeichenlehre, der zeichentheorie in anspruch nehmen. doch ist dies wiederum nicht die ansprache, die man zu einer ausstellungseröffnung erwartet. hingegen sei aus dem schon beachtlich vielseitigen werk von sabine richter noch an eine arbeit erinnert,die zwar nicht vertreten ist, sich jedoch rein verbal darstellen lässt. ich denke an ihre neoninstallation in den lorenzkirche in nürnberg, wo der leser vor der kirche in blauer beleuchtung die buchstaben bzw. das wort "nebel" liest und darüber in umgekehrter leserichtung das wort "leben". dieses wort "leben" wieder liest sich in richtiger reihenfolge im inneren der kirche, das heisst, von aussen ist man mehr mit dem nebel beschäftigt, im inneren hingegen mit dem "leben". auch dies also eine umkehrung. bei der beprechung mit der künstlerin, als ich da und dort die herkunft ihrer ideen mit dem bauhaus und dem konsrtuktivismus in verbindung brachte, nannte sie den namen des künstlers "rodtschenko", also eine der zentralen figuren des russischen konstruktivismus. in der tat, bei neuerlichem recherchieren in dieser richtung sind bezüge zu rodtschenkos fotomantagen aus dem jahr 1923 durchaus feststellbar. damit schliesst sich der kreis, in dessen zentrum die arbeiten von sabine richter stehen und dessen eine hälfte sich um den pioniergeist der zwanziger jahre, die andere hälfte um tranzparenz, neue realität, immaterialität der zukunft ründet. das macht die begegnung spannend wie jede begegnung mit dem nerv der zeit, wobei sich der kunstnerv immmer wieder in spannungsvollen wahrnehmungemustern darstellt.