Tobias Hoffmann
Leiter Museum für Konkrete Kunst
Sabine Richter – das Gefüge der Welt

Ein Stelenfeld aus magentafarbenen Blöcken scheint sich in der Serie „Magenta“ vor dem Betrachter zu erheben. Sie stehen in einem kargen Raum, vor einer Betonwand und offensichtlich auf einem Betonboden. Die Oberfläche der Stelen legt die Vermutung nahe, dass auch sie aus Beton sind. Sie wirken groß, massiv und wuchtig. Wenn man sich als Mensch dazu positionieren müsste, wären sie wohl lebensgroß, wenn nicht größer. Ein Feld von Betonstelen lässt natürlich sofort an das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin von Peter Eisenman denken. Sabine Richter erwähnt diese Assoziation im Gespräch.

Doch mit diesem Hinweis hat sie den Betrachter nur endgültig auf die falsche Fährte gelockt. Denn was wie massive Betonstelen aussieht, sind in Wirklichkeit nur 80 cm hohe Abdeckungen von Kabelschächten aus Holz. Und auch die Farbe ist nicht die, die sie zu sein scheint. Zu einer bestimmten Tageszeit fällt als Reflexion einer gegenüberliegenden Fassade ein magentafarbener Schimmer durch die großen Glasfenster, die sich von den Stelen aus gesehen linker Hand befinden. Sabine Richter hat die Kabelabdeckungen in der neuen Messe in Graz, die während des Messeaufbaus wie ein Stelenfeld arrangiert waren, so vorgefunden und sie im magentafarben schimmernden Licht fotografiert. Sie selbst lag dabei auf dem Boden, um so die Stelen größer erscheinen zu lassen. Nichts ist also auf diesen Bildern so, wie es scheint. Die Größenverhältnisse stimmen nicht, das vermutete Material stimmt nicht, und die Farbe ist nur eine Momentaufnahme.

Die tatsächliche Realität dagegen wird nicht thematisiert. Auch der Titel der Serie, „Magenta I-XI“, gibt keinen Hinweis. Der Betrachter wird alleine gelassen mit einem Restzweifel, ob das, was er sieht, tatsächlich die Realität sein kann. Die Farbe Magenta verleiht den Bildern ein Hauch von Künstlichkeit und Inszeniertheit, der gerade den besonderen Reiz dieser Serie ausmacht. Die Bilder sind nicht ganz eindeutig und lösen eine Irritation aus.

Die Lust am Falschen und an der Täuschung ist hier Ausgangspunkt einer künstlerischen Auseinandersetzung über Sehgewohnheiten. Das Medium Fotografie – in seinen Anfängen ausdrücklich nur als Spiegel der Wirklichkeit verstanden – gibt sich längst dem lustvollem Spiel zwischen Wahrheit und Unwahrheit hin. Und so konfrontiert uns auch Sabine Richter in dieser Arbeit mit der Frage, ob unser Sehen sensibel genug ist, um das, was wir zu sehen meinen, richtig zu deuten. Sind wir eigentlich in der Lage, Feinheiten wahrzunehmen, die Schönheit, die im Detail steckt? Diese Frage ist grundlegend für das Werk von Sabine Richter.

Die Aufnahmen der Serie „Grid“ stammen von Baustellen, auf denen Sabine Richter in die Baugruben hinein fotografiert hat. Sie zeigen ein schier undurchdringbares Linienspiel, das sich aus der vielfachen Überlagerung von Rasterstrukturen der Gitterstäbe von so genannten Q-Matten bildet. Zur Armierung beim Betongießen kommen Gitterraster aus Eisenstangen zum Einsatz. Diese Raster, allgegenwärtig in der modernen Architektur, aber immer nur während der Bauphase sichtbar, zeigt Sabine Richter in ihrer verwirrenden Ästhetik. Durch die Wahl des Blickwinkels betont sie die Rasterlinien derart, dass es schwer fällt, auf diesen Bildern zwischen vorne und hinten und oben und unten zu unterscheiden. Zwar baut sie jeweils noch weitere Elemente ein, etwa Bretter, was aber die Orientierung nicht wirklich erleichtert. Vermutet man zunächst bei „Grid I“, dass die beiden Bretter auf dem Boden liegen, so verdeutlicht der Schatten doch, dass sie irgendwo auf einer Zwischenebene liegen müssen. Als breite Linien und quergestelltes Rechteck scheinen die beiden Bretter innerhalb des Bildaufbaus zu schweben. Es gibt keine hierarchische Unterscheidung zwischen Vorder- und Hintergrund in dieser Konstruktion. Die Systematik des All-Over der Struktur geht einen Dialog mit der reinen geometrischen Form des Querrechtecks ein. An dieser Stelle schweift man automatisch in die Terminologie der Bildanalyse der konstruktiv-konkreten Kunst ab. Dies aber nicht ganz zu Unrecht, nennt Sabine Richter „Grid I“ doch selbst ihre „Hommage an El Lissitzky“, an den neben Kasimir Malewitsch wohl bedeutendsten Künstler des russischen Suprematismus. Damit schlägt sie den Bogen zur Kunstgeschichte und ihren künstlerischen Bezügen. Die Ästhetik von Struktur und Raster ist in ihren Fotografien allgegenwärtig. Sie nimmt damit Bezug auf Künstler wie Francois Morellet, Klaus Staudt oder Hartmut Böhm, die von den 1960er Jahren an eine versachlichte Kunst schufen, die mit den Prinzipien Struktur und Raster arbeitete. Nicht Formen sollten gezeigt werden, nicht deren Komposition, d.h. eine Anordnung auf der Bildfläche, sondern ein homogenes Feld gleichartiger Bildelemente. Mit möglichst gleichartigen Zeichen versuchte man eine neue Ästhetik zu entwickeln, die keine Hierarchien im Bildaufbau entstehen lässt. Alle Bildelemente sollten im Verein des Gesamtfeldes gleichwertig sein. Meist kam dabei ein serielles Prinzip zur Anwendung, das auf einem vorher festgelegten Programm basierte. Umberto Eco prägte dafür 1962 in einem von Olivetti herausgegeben Ausstellungskatalog konsequenterweise den Begriff „arte programmata“.

In den Serien „Grid“, „Sveglia“ und „In between“ ist die Begeisterung für Raster und Strukturen allgegenwärtig. Ausgehend von dem Blick in eine Baugrube in „Grid“, dem Zusammenspiel zwischen einem eigentlich banalen architektonischen Detail und seinem Schattenwurf in „In between“ oder einer besonderen architektonischen Anordnung in „Sveglia“ kristallisiert Sabine Richter die Wirkung von Struktur und Raster heraus. Fast immer ist dabei eine nicht inszenierte tatsächlich gegebene, alltägliche Situation der Ausgangspunkt, die sie erfasst und deren Besonderheit sie festhält, ohne dass sie das Bild später noch einmal digital nachbearbeitet. Durch den speziellen Blick emanzipieren sich die Bilder dabei mal mehr, mal weniger von der Notwendigkeit abzubilden. Sie sind nichts anderes als die Darstellung des Vorhandenen, und doch lösen sie sich ins Ungegenständliche auf. Das Gitterraster in „Grid“ wird so dominant, dass eine klare räumliche Zuordnung nicht mehr möglich scheint. In „Interference“ wird aus dem Zusammenspiel eines Holzlattenbodens mit der Spiegelung einer Glasfassade eine neue Konstruktion aus Quer- und Wellenlinien. Die Werke von Sabine Richter testen die Grenze zur Ungegenständlichkeit aus, ohne sie zu überschreiten. Bei aller Begeisterung für die abstrakten Prinzipien Struktur und Raster bleibt immer der tatsächliche Bezug zur Realität erhalten. Die in der Konkreten Kunst in Reinform dargestellte Ästhetik und ihre künstlerischen Fragestellungen werden damit wieder zurück in die alltägliche Welt geholt.

Sabine Richter ist in ihrer selbstbewussten Positionierung gegenüber den künstlerischen Traditionen der vergangenen Jahrzehnte nicht alleine. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Abstraktion die große künstlerische Herausforderung und gleichzeitig Ausdruck einer neuen, bisher unbekannten Freiheit in der Kunst. Die Abstraktion und als ihre Folge die Konkrete Kunst waren höchster Ausdruck des avantgardistischen Denkens. Wer etwas Neues in der Kunst aussagen wollte, musste dies unweigerlich ungegenständlich tun. Im Laufe der Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich ausgehend von der Abstraktion über den Konstruktivismus, die Konkrete Kunst, die Arte Programmata, die Kunst der Neuen Tendenzen, die Minimal Art und Postminimal eine Haltung in der Kunst entwickelt, die es nun zu Beginn eines neuen Jahrtausends nicht mehr nötig erscheinen lässt, zwangläufig ungegenständlich zu arbeiten. Wie bei Sabine Richter lassen sich die Fragestellungen, die die Künstler bearbeiten, zweifellos aus der Traditionslinie der konstruktiv-konkreten Kunst ableiten. Doch gerade im Medium der Fotografie sucht man geradezu das Spiel mit der Grenze zwischen Gegenständlich und Ungegenständlich.

Tobias Hoffmann
Sabine Richter – the structure of the world


A field of magenta-colored stelae in the "Magenta" series seems to rise in front of the viewer. The stelae are located in a plain room, in front of a concrete wall and obviously on a concrete floor. Their surface suggests the assumption that the stelae themselves are made of concrete. They appear large, massive and bulky. Were a human to approach them, they would probably seem to be life-sized, if not taller. Of course, such field of concrete stelae calls immediately Peter Eisenman's Memorial to the Murdered Jews of Europe in Berlin to mind. Sabine Richter mentions this association during a conversation.

But with this allusive hint, Sabine Richter has managed to set the viewer definitely on the wrong track. For what looks like massive concrete stelae are in reality nothing but 80-cm-high coverings of wooden cable ducts. Even the color is different from what it appears to be. At a certain time of day a magenta-colored shimmer reflected from an opposite façade falls through the big glass windows located, as seen from the stelae, on the left. Sabine Richter had found the cable coverings, arranged like a field of stelae during the construction of the new Graz Trade Fair premises and taken photographs of them in magenta-shimmering light. In doing so, she was lying on the ground to make the stelae appear larger. Hence nothing in these images is as it seems to be. The proportions are incorrect, the presumed material is different, and the color is only a snapshot.

The actual reality, however, is not addressed. The title of the series "Magenta I-XI" does not give a lead either. The viewer is left alone with a rest of doubt if what he sees can actually be reality. The magenta color provides the images with a touch of artificiality and deliberate staging that makes this series so special. The images are not quite unambiguous and evoke irritation.

Here the desire for misrepresentation and deception constitutes the starting point for an artistic discussion about viewing habits. The medium of photography – in its origins understood to be nothing but the mirror of reality – has long since abandoned itself to the passionate play between truth and untruth. Thus Sabine Richter, too, confronts us in this work with the question whether or not our seeing is sensitive enough to interpret correctly what we believe to see.
Are we really able to recognize nuances, the beauty hidden in details? This question is fundamental for Sabine Richter's work.

The images of the "Grid" series come from construction sites on which Sabine Richter photographed down into the foundation pits. They show an almost impenetrable interplay of lines produced by the multiple superposition of the grid structures of bars of concrete reinforcing mats. Grids of steel bars are used to reinforce concrete-poured walls. Sabine Richter presents these grids, ubiquitous in modern architecture even if visible only during the construction phase, in their bewildering aesthetic. In choosing the viewing angle she emphasizes the grid lines so much that it is difficult to distinguish between front and rear and top and bottom in these images. The fact that she still includes several other elements such as boards does not really make one's orientation easier. While one at first might presume that the two boards in "Grid I" lie on the ground, their shadow clearly indicates that they must lie somewhere on an interlayer. The two boards seem to float as broad lines and transverse rectangle within the image composition. There is no hierarchical distinction between foreground and background in this construction. The systematic of the all-over structure commences a dialog with the pure geometric form of the transverse rectangle. At this point one automatically digresses into the image analysis terminology of constructive-concrete art. Not without good reason, for Sabine Richter herself refers to "Grid I" as her "homage to El Lissitzky", the doubtless most important artist of the Russian Suprematism beside Kazimir Malevitch.

Here she segues into the history of art and her artistic references. The aesthetic of structure and grid is omnipresent in her photographs. Thus she refers to artists like François Morellet, Klaus Staudt or Hartmut Böhm who started in the 1960s creating works of objectified art based on the principles of structure and grid. Neither was it forms that were to be presented nor their composition, i.e. their arrangement within the image area, but a homogeneous field of similar image elements. Using as identical symbols as possible, they attempted to develop a new aesthetic that would do without any hierarchy within the composition of the image. All image elements were to be tantamount across the field. To this end, a serial principle on the basis of a pre-defined program was usually applied. In 1962, Umberto Eco coined consistently the term "arte programmata" in an exhibition catalog published by Olivetti.

In the "Grid", "Sveglia" and "In between" series, Sabine Richter's enthusiasm for grids and structures is omnipresent. Starting with the view into a building pit in "Grid", with the interplay between a rather trivial architectural detail and its shadow in "In between" or with a special architectural arrangement in "Sveglia", Sabine Richter brings out the effects of grid and structure. Her starting point is quite frequently some non-staged, subsistent everyday situation which she recognizes and whose special characteristic she captures without any subsequent digital post-processing of the image. Through their special perspectives, the images depart sometimes more, sometimes less from any requirement to reproduce something. They are nothing else but a representation of physically existing objects while nevertheless disintegrating into non-representationalism. The grid pattern in "Grid" becomes so dominant that a distinct spatial allocation does no longer seem feasible. In "Interference", the interplay between a slatted wooden floor and the reflection from a glass façade produces a new construction of transverse and wavy lines. The works of Sabine Richter touch the borderline to non-representationalism without crossing it. Despite all her enthusiasm for the abstract principles of structure and grid she retains her actual grip on reality. The aesthetic depicted in pure form in Concretism and its artistic issues are this way returned to the everyday world.

Sabine Richter is not alone in her self-confident positioning towards the artistic traditions of the past decades. In the beginning of the 20th century, abstraction was both the great artistic challenge and the expression of a new, by then unprecedented freedom in art. Abstraction, and Concretism as its consequence, was the supreme manifestation of Avant-garde thinking. Whoever intended to convey something new in art had inevitably to work as an abstractionist. In the course of the decades of the 20th century, however, an artistic attitude evolved, starting with Abstraction over Constructivism, Concretism, Arte Programmata, Nouvelles Tendances, Minimalism and Postminimalism which, at the beginning of a new millennium, apparently no longer requires artists to stick to abstraction. As with Sabine Richter, the questions addressed by the artists can undoubtedly be derived from the traditional development of constructive-concrete art. In the medium of photography, however, one is positively seeking to play with the borderline between concrete and abstract.