Dr. Barbara Kahle
Eröffnung der Ausstellung "Schattengeviert"
Galerie Kunst im Gang | 8. Mai 2011


Liebe Sabine Richter, liebe Mitglieder des Kunstvereins, liebe Gäste

Vor etwa einem Dreiviertel Jahr hing in der Ausstellung Europa Konkret/Sammlung Jürgen Blum in einem kleinen Raum im Obergeschoß der Villa Dessauer eine Fotoarbeit von Sabine Richter aus der Serie „espace“. Unser spontaner Gedanke damals war, dieser Künstlerin einmal eine größere Einzelausstellung zu widmen. Sabine Richter war einverstanden, als heimatloser Kunstverein fehlten uns aber die geeigneten Räumlichkeiten: weder in der Villa Dessauer noch im Theaterfoyer ist es erlaubt, Bilder direkt auf der Wand zu befestigen; außerdem gab es hier auch zeitlich-organisatorische Probleme. So sind wir Dietlinde Schunk-Assenmacher außerordentlich dankbar, dass Sie uns ihre Galerieräume zur Verfügung stellt. Und hier haben wir nun wirklich den adäquaten Rahmen gefunden, um Ihnen das Werk dieser renommierten Fotokünstlerin präsentieren zu können. Noch ein anderer glücklicher Umstand kommt hinzu: der Kunstverein beschäftigt sich in diesem ersten Halbjahr schwerpunktmäßig mit dem Medium der Fotografiie: wir haben im Theaterfoyer Bilder des Architektur- und Dokumentarfotografen Gerhard Hagen gezeigt, der Hamburger Fotokünstler Alexander Rischer hat uns bildlich zu seinen skurilen Architekturobjekten geführt und nun endlich im Sommer zeigen wir eine Ausstellung mit Werner Kohns Fotografien: dann werden wir in der Tiefgarage Georgendamm zu Gast sein. Doch aktuell nun Sabine Richter!

„Vom Zeichenstift der Natur, als die der Fotopionier Henry Fox Talbot die Fotografie im Jahr 1844 zu erkennen glaubte, über die objektive Sehform unserer Zeit, als die sie Laszlo Moholy Nagy Mitte der 1930er Jahre beschrieb, zur illegitimen Kunst, als die Pierre Bourdieu die Fotografie in den 1960er Jahren brandmarkte bis hin zum dubitativen Bild der digitalen Neuzeit am Ende des fotografischen Zeitalters ist der Fotografie scheinbar alles möglich“, so Magdalena Kröner im Kunstforum 2011 (Bd.206, S.107).

Was macht nun die Künstlerin Sabine Richter möglich? Fotos verbindet man ja selbstverständlich mit sichtbarer Realität, quasi als Ausschnitt aus der Vielfalt des Sichtbaren, während Gemälde und Zeichnungen einen eigenständigen ästhetischen Raum artikulieren (Johannes Meinhardt), Solch Eigenständiges wird man aber auch sofort für diese Bilder reklamieren, und der Eine oder Andere wird vielleicht spontan von abstrakter Fotografie sprechen, etwa in Magdalena Kröners Diktion des Fotografischen als Wunschmaschine, welche Bilder zu generieren in der Lage ist, deren Ursprünge und Referenten weder erkennbar noch nachvollziehbar bleiben. (ebd.) Gerade z.B. bei der Serie „espace“ liegt die Nähe zu abstrakt-geometrischen Flächenkompositionen ganz offen; bei solchen Bildern, wie auch „xeno“ oder „dornbirn 1“, kommt man durchaus ins Zweifeln, ob es sich nicht um künstlich generierte Formen handelt. Die Bilder geben uns hier nicht sofort eine Auskunft. Wie in vielen Bereichen unserer Gegenwart, darin eingeschlossen die Kunst, bleiben definitive Antworten aus. Eher gehen die Fragen an den Betrachter zurück: Was siehst Du eigentlich genau? Durchschaust Du die Konstruktion des Bildes? Siehst Du Räume oder siehst Du eher farbige Flächen? Oder siehst Du sogar beides gleichzeitig? In den meisten Fällen sind architektonische Motive als Ausgangspunkt gewählt; gebaute Situationen, viel moderne Architektur, die nun allerdings aus einem sinnlich erfahrbaren Bezugsrahmen herausgelöst werden. Wir erkennen weder den Ort, wo das Gebäude steht, noch das Gebäude in seiner Gesamtheit oder in seiner Funktion. Der Gegenstand selbst, hier also die Architektur, wird abstrakt, gefördert insbesondere durch die von Sabine Richter gewählte Ausschnitt-Strategie. Mag dieser Ausschnitt auch noch so ungewöhnlich sein, er bleibt bei aller Abstraktheit Teil des gegenständlichen Kontextes: Die Serie „espace“ z.B. entstand in einem Museum für konkrete Kunst in Mouans-Satroux in Südfrankreich. Dornbirn gibt einen Ausschnitt aus dem Data Center von dem Architektenduo Baumschlager und Eberle wieder. Nahezu alle Fotografien bewegen sich aus dem Real-Gegenständlichen in den Grenzbereich hin zum Ungegenständlichen. Gerade die Konfrontation aus scheinbarer Abstraktion und ihre Verwurzelung in einer alltäglichen, manchmal fast banalen Materialität macht die besondere Spannung dieser Bilder aus.

Sabine Richter unterläuft das Selbstverständliche eines Fotos aber nicht nur mit dem abstrahierenden Ausschnitt; Widersprüche und Doppeldeutigkeiten entstehen auch durch den Einsatz des Lichtes als Material. Nun ist die Fotografie ja per se Lichtbildnerei; das Licht als künstlerisches Werkzeug wie Pinsel und Farbe ist notwendiger Bestandteil; hier geht es aber darüber hinaus vielmehr um die Wahrnehmung und Ausnutzung bestimmter Lichtsituationen. Etwas Magisch-Faszinierendes geht von der 3-teiligen Serie aus, die Sie an der Treppe zum unteren Gang sehen: ein unbestimmter Raum, leer, dunkel, von der Außenwelt abgeschlossen, der von Lichtstrahlen erhellt wird. Die Aura einer jahrhundertealten symbolischen Bedeutung des Lichtes als Bote einer anderen Welt scheint hier mitzuschwingen. Mit Hilfe der Struktur des Lichteinfalls wird in der 2-teiligen Arbeit „griglia“ eine banale Gitterkonstruktion nun zu einem Rasterbild in all-over-Struktur, das irgendwie irreal anmutet. Das Materielle, Physische des Objektes weicht dem flüchtigen abstrakten Formenspiel. Sabine Richter nutzt die Materialeigenschaften ihrer Objekte: Aluminium, vor allem Glas, für Reflexionen und Spiegelungen des Lichtes. Dies führt zu einer Überblendung der Materialien, letztlich zu dem, was als Dematerialisierung oder Immaterialisierung der korrespondierenden Stoffe beschrieben wurde (Monika Wagner). Gerade die Serie insight-out in der Grazer Messehalle von Klaus Kada aufgenommen, ist hier ein bezeichnendes Beispiel. Wie der Titel schon sagt, wird bei den vielen Spiegelungen und Brechungen nicht mehr nachvollziehbar was Innen-, was Außenraum ist. Die fotografierte räumliche Situation ist von uns eigentlich kaum zu rekonstruieren. Man scheint Ausschnitte aus dem Innenraum zu sehen – gleichzeitig kann man aber auch ein spitz zulaufendes, gekipptes Dach ausmachen. Statisch lässt sich hier überhaupt nichts mehr logisch begreifen. In allen Ausschnitten scheint das moderne Gebäude eher zerlegt zu werden. Dabei hat Sabine Richter - und dies gilt für alle ihre Arbeiten – keinesfalls arrangierend eingegriffen, eine Bearbeitung hat in keinster Weise stattgefunden. Das muss man ausdrücklich betonen, denn heutzutage traut man der Fotografie ja mittels sämtlicher technischer Trickkisten die völlige Veränderung der Realität zu. Sabine Richter hat aber vielmehr das fotografiert, was sie gesehen hat, was auch wir hätten sehen können, in einem bestimmten Raum, zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Lichteinfall – was wir aber meistens nicht wahrnehmen. Denn diese besondere Situation ist ja quasi einmalig, singulär, verändert sich im Standort- und Lichtwechsel, kippt bei jeder kleinsten Bewegung in eine andere Erscheinung.

Ich zitiere den Medien- und Kulturtheoretiker Mark Ries, der sich intensiv mit Richters Arbeiten auseinandergesetzt hat: „Zu sehen sind unkörperliche Fotografien unkörperlicher Spiegelungen (unkörperlich deshalb, weil sie als reine Oberfläche in den Blick kommen), die nicht existieren, sondern insistieren, sie insistieren darauf, dass sie nicht Abbilder von Architektur-Ideen, also –konstruktionen sind, sondern simulakren mit Oberflächenwirkungen, die nicht die Frage nach einem sein stellen, sondern die nach einem aliqid, einem ETWAS. Etwas passiert auf einem spiegelnden Glas, das keine Identität/Idealität beansprucht, sondern von dem Betrachter die Bereitschaft abverlangt, sich auf eine paradoxe Welt einzustellen“

. Dass das Licht wie Pinsel und Farbe gebraucht werden kann, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Reihe „Magenta“, die in der Neuen Messe in Graz entstand. Wenn Sie beschreiben müssten, um was sich hier handelt, würden Sie wahrscheinlich sagen: magentafarbene Stelen bzw. hochkant stehende Quaderblöcke in einer großen Betonhalle – und lägen damit doch falsch. Denn Sabine Richter hat hier während der Bauzeit nur 80 cm hohe hölzerne Kabelschacht-Abdeckungen gesehen, auf die von rechts durch die Glaswand als Reflexion das farbige Licht der gegenüberstehenden Messehalle fiel. Dabei handelt es sich um jene Messehalle von Klaus Kada, die Sabine Richter in „insight-out“ aufgenommen hat. Nichts ist so, wie man denkt. Farbe ist nur einen Moment vorhanden, die Verhältnisse von tatsächlicher Größe und fotografischer Perspektive führen zu einer nachhaltigen Verunklärung des Bildes. Es stellt sich zwangsläufig die alles übergreifende Frage, ob wir das, was wir sehen, auch richtig deuten können? Die Vermischung von Illusion und Bild ist optisch nicht fassbar. „Das fotografierte Bild als Metapher für einen Schwebezustand zwischen Realem und Imaginärem“, diese Zuordnung gibt die Künstlerin selber ihren Werken.

Die Serie „screen“, aufgenommen am Institut für Pflanzenphysiologie in Graz, besteht aus 250 Einzelbildern, die gleich einer filmischen Sequenz, die Lichtreflexionen wiedergibt, die auf einer 4-geteilten ca. 8 x 5 m großen Metallfläche entstehen. Sie fängt das Licht auf, das von der Oberfläche des im Zick-Zack geführten Verbindungssteges reflektiert wird. Im Verlauf der Zeit entstehen wandelnde Konstellationen von Farben und Formen. Das Licht transformiert die Architektur in eine abstrakte Komposition, die Wandfläche wird zum Bildträger. Zugleich gegenständlich und abstrakt wird dieser vermeintliche Gegensatz völlig aufgehoben. Gerade im Durchspielen solcher Bildreihen wird Aufmerksamkeit für kleinste Bewegungen geschaffen, für die flüchtigen Momente.

Sabine Richter ist eigentlich Bildhauerin. Die gebürtige Coburgerin hat an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg das klassische Arbeiten mit Hammer und Meißel gelernt und diese Richtung zunächst auch als Künstlerin eingeschlagen. Ihr Weg zur Fotografie hat sich eher zufällig über die Wahrnehmung von Lichtsituationen ergeben und seit nunmehr vielen Jahren benutzt sie hauptsächlich die Kamera, zunächst eine Polaroid dann eine Spiegelreflexkamera, heute fotografiert sie auch digital. Ihre Fotodrucke werden auf Aluminium aufgezogen und von rahmenlosem Plexiglas bedeckt. Sabine Richter ist auch lehrend tätig und zwar am Lehrstuhl für Kunstpädagogik an der Universität Erlangen/Nürnberg. In zahlreichen Einzelausstellungen auch auf internationaler Bühne kann man ihren fotografischen Werdegang verfolgen.

Die thematischen Leitlinien sind immer wieder : Körper, Raum, Architektur in ihrem Verhältnis von Innen und Außen, das Verhältnis von Raum und Umraum, zum Licht. Die Durchdringung verschiedener Ebenen und Dimensionen, Räumliches in die zweidimensionale Fläche zu bringen, beschäftigt sie schon mehr als 20 Jahre. Ihre künstlerischen Bezüge sind nicht von ungefähr bei El Lissitzky und dem russischen Suprematismus zu sehen; das Konstruktivistische, die Ästhetik von Struktur und Raster ist in ihren Fotos allgegenwärtig. Sie arbeitet mit der Zersplitterung der Formen oder mit homogenen Feldern gleichartiger Bildelemente, die ihre Nähe zur konkreten Kunst offenbart ebenso wie ihre Begeisterung für deren klare, elementare und intensive Bildsprache. Aber, Sabine Richter bewahrt den tatsächlichen Bezug zur Realität; das, was die konkreten Künstler in einer geistigen Sphäre beschäftigt hat, wird in die alltägliche Welt zurückgeholt, gedankliche Vorgänge bleiben nicht abstrakt, sondern sind in der Realität anschaulich vorhanden.

Bei manchen Fotos lassen sich durchaus Parallelen zu malerischen Positionen finden – das fand ich eigentlich sehr verblüffend - , sei es, dass man bei „espace“ an die Farbräume eines Marc Rothko denkt oder in ganz anderer Richtung die Arbeit „buda“ mit Paul Klee assoziiert. Sie haben möglicherweise schon einmal Paul Klees „Haupt- und Nebenwege“ gesehen: aufgebaut in einem linearen Gerüst, das nach rationalen Gesetzen angelegt ist. Im Sinne einer kontinuierlichen Tiefengliederung verjüngen sich horizontale und vertikale Streifen von nah nach fern. Klee hatte sich ja gerade in seiner Bauhauszeit in technologisch-rationalistischem Denken geübt und dies in einer „Bildnerischen Gestaltungslehre“ für den Unterricht formuliert. Sabine Richters „buda“ wäre ein anschauliches Beispiel für solcherlei Denkprozesse. Zu meinen Lieblingsbildern zählt das quadratische Bild „treppe““ aus einem Haus in Italien: es ist eigentlich eine ganz banale Situation erfasst: eine Treppe, die in einen unteren Raum führt. Diese reale Gegebenheit wird allerdings überführt in eine abstrakt-kristalline Flächenkomposition, der Raum wird in die Fläche gebracht und zeigt sich als dunkler Rahmen aus dunklen Wand- und Treppenstufen, in das ein verschobenes helles 6-Eck einbeschrieben ist, seinerseits zusammengesetzt aus geometrischen Wandflächen und weiteren Flächen der Treppenstufen, die von einer nicht sichtbaren Lichtquelle erhellt werden. Fast irreal erscheint das helle Blau des linken Dreiecks.
Sabine Richter nennt ihre Arbeiten auch Konstellationen und bezieht sich dabei auf Prof. Gomringer, der eben jene Kunst der Konstellationen als Wahrnehmung vom Zusammentreffen bestimmter Umstände hier in diesen Arbeiten so hervorragend geglückt beschreibt.

Zum Licht gehört der Schatten, der sich mit den Objekten verzahnt und ebenfalls eine Transformation der Ausgangssituation bewirkt. Schatten ordnen unseren Raumeindruck, sie tragen aber auch das Moment des Geheimnisvollen in sich, wenn etwas, das nicht im Bild ist, nur durch den Schatten präsent wird: flirrende Schatten von Bäumen wie in den Bilder „espace“, nicht identifizierbare Schatten, das Geheimnis bewahrend, in „floating“. Der Titel der gesamten Ausstellung verweist ebenfalls auf den Schatten: -Schattengeviert-, ein Begriff, der einem Gedicht Paul Celans entnommen wurde.
Der Schatten ist ja etwas Immaterielles und doch an Reales gekoppelt. Er überträgt den dreidimensionalen Körper in die 2-dimensionale Fläche. Im Sinne eines Vergeistigungsprozesses von 3 nach 2 steht er in poetischer Weise für die Suche nach Essenz aus der Wirklichkeit. Und so sind der Schatten und Sabine Richter Seelenverwandte!

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Dr. Barbara Kahle
Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Schattengeviert“
Galerie Kunst im Gang | Bamberg, 8. Mai 2011

Liebe Sabine Richter, liebe Mitglieder des Kunstvereins, liebe Gäste

Vor etwa einem Dreiviertel Jahr hing in der Ausstellung Europa Konkret/Sammlung Jürgen Blum in einem kleinen Raum im Obergeschoß der Villa Dessauer eine Fotoarbeit von Sabine Richter aus der Serie „espace“. Unser spontaner Gedanke damals war, dieser Künstlerin einmal eine größere Einzelausstellung zu widmen. Sabine Richter war einverstanden, als heimatloser Kunstverein fehlten uns aber die geeigneten Räumlichkeiten: weder in der Villa Dessauer noch im Theaterfoyer ist es erlaubt, Bilder direkt auf der Wand zu befestigen; außerdem gab es hier auch zeitlich-organisatorische Probleme. So sind wir Dietlinde Schunk-Assenmacher außerordentlich dankbar, dass Sie uns ihre Galerieräume zur Verfügung stellt. Und hier haben wir nun wirklich den adäquaten Rahmen gefunden, um Ihnen das Werk dieser renommierten Fotokünstlerin präsentieren zu können. Noch ein anderer glücklicher Umstand kommt hinzu: der Kunstverein beschäftigt sich in diesem ersten Halbjahr schwerpunktmäßig mit dem Medium der Fotografiie: wir haben im Theaterfoyer Bilder des Architektur- und Dokumentarfotografen Gerhard Hagen gezeigt, der Hamburger Fotokünstler Alexander Rischer hat uns bildlich zu seinen skurilen Architekturobjekten geführt und nun endlich im Sommer zeigen wir eine Ausstellung mit Werner Kohns Fotografien: dann werden wir in der Tiefgarage Georgendamm zu Gast sein. Doch aktuell nun Sabine Richter!

„Vom Zeichenstift der Natur, als die der Fotopionier Henry Fox Talbot die Fotografie im Jahr 1844 zu erkennen glaubte, über die objektive Sehform unserer Zeit, als die sie Laszlo Moholy Nagy Mitte der 1930er Jahre beschrieb, zur illegitimen Kunst, als die Pierre Bourdieu die Fotografie in den 1960er Jahren brandmarkte bis hin zum dubitativen Bild der digitalen Neuzeit am Ende des fotografischen Zeitalters ist der Fotografie scheinbar alles möglich“, so Magdalena Kröner im Kunstforum 2011 (Bd.206, S.107).

Was macht nun die Künstlerin Sabine Richter möglich? Fotos verbindet man ja selbstverständlich mit sichtbarer Realität, quasi als Ausschnitt aus der Vielfalt des Sichtbaren, während Gemälde und Zeichnungen einen eigenständigen ästhetischen Raum artikulieren (Johannes Meinhardt), Solch Eigenständiges wird man aber auch sofort für diese Bilder reklamieren, und der Eine oder Andere wird vielleicht spontan von abstrakter Fotografie sprechen, etwa in Magdalena Kröners Diktion des Fotografischen als Wunschmaschine, welche Bilder zu generieren in der Lage ist, deren Ursprünge und Referenten weder erkennbar noch nachvollziehbar bleiben. (ebd.) Gerade z.B. bei der Serie „espace“ liegt die Nähe zu abstrakt-geometrischen Flächenkompositionen ganz offen; bei solchen Bildern, wie auch „xeno“ oder „dornbirn 1“, kommt man durchaus ins Zweifeln, ob es sich nicht um künstlich generierte Formen handelt. Die Bilder geben uns hier nicht sofort eine Auskunft. Wie in vielen Bereichen unserer Gegenwart, darin eingeschlossen die Kunst, bleiben definitive Antworten aus. Eher gehen die Fragen an den Betrachter zurück: Was siehst Du eigentlich genau? Durchschaust Du die Konstruktion des Bildes? Siehst Du Räume oder siehst Du eher farbige Flächen? Oder siehst Du sogar beides gleichzeitig? In den meisten Fällen sind architektonische Motive als Ausgangspunkt gewählt; gebaute Situationen, viel moderne Architektur, die nun allerdings aus einem sinnlich erfahrbaren Bezugsrahmen herausgelöst werden. Wir erkennen weder den Ort, wo das Gebäude steht, noch das Gebäude in seiner Gesamtheit oder in seiner Funktion. Der Gegenstand selbst, hier also die Architektur, wird abstrakt, gefördert insbesondere durch die von Sabine Richter gewählte Ausschnitt-Strategie. Mag dieser Ausschnitt auch noch so ungewöhnlich sein, er bleibt bei aller Abstraktheit Teil des gegenständlichen Kontextes: Die Serie „espace“ z.B. entstand in einem Museum für konkrete Kunst in Mouans-Satroux in Südfrankreich. Dornbirn gibt einen Ausschnitt aus dem Data Center von dem Architektenduo Baumschlager und Eberle wieder. Nahezu alle Fotografien bewegen sich aus dem Real-Gegenständlichen in den Grenzbereich hin zum Ungegenständlichen. Gerade die Konfrontation aus scheinbarer Abstraktion und ihre Verwurzelung in einer alltäglichen, manchmal fast banalen Materialität macht die besondere Spannung dieser Bilder aus. Sabine Richter unterläuft das Selbstverständliche eines Fotos aber nicht nur mit dem abstrahierenden Ausschnitt; Widersprüche und Doppeldeutigkeiten entstehen auch durch den Einsatz des Lichtes als Material. Nun ist die Fotografie ja per se Lichtbildnerei; das Licht als künstlerisches Werkzeug wie Pinsel und Farbe ist notwendiger Bestandteil; hier geht es aber darüber hinaus vielmehr um die Wahrnehmung und Ausnutzung bestimmter Lichtsituationen. Etwas Magisch-Faszinierendes geht von der 3-teiligen Serie aus, die Sie an der Treppe zum unteren Gang sehen: ein unbestimmter Raum, leer, dunkel, von der Außenwelt abgeschlossen, der von Lichtstrahlen erhellt wird. Die Aura einer jahrhundertealten symbolischen Bedeutung des Lichtes als Bote einer anderen Welt scheint hier mitzuschwingen. Mit Hilfe der Struktur des Lichteinfalls wird in der 2-teiligen Arbeit „griglia“ eine banale Gitterkonstruktion nun zu einem Rasterbild in all-over-Struktur, das irgendwie irreal anmutet. Das Materielle, Physische des Objektes weicht dem flüchtigen abstrakten Formenspiel. Sabine Richter nutzt die Materialeigenschaften ihrer Objekte: Aluminium, vor allem Glas, für Reflexionen und Spiegelungen des Lichtes. Dies führt zu einer Überblendung der Materialien, letztlich zu dem, was als Dematerialisierung oder Immaterialisierung der korrespondierenden Stoffe beschrieben wurde (Monika Wagner). Gerade die Serie insight-out in der Grazer Messehalle von Klaus Kada aufgenommen, ist hier ein bezeichnendes Beispiel. Wie der Titel schon sagt, wird bei den vielen Spiegelungen und Brechungen nicht mehr nachvollziehbar was Innen-, was Außenraum ist. Die fotografierte räumliche Situation ist von uns eigentlich kaum zu rekonstruieren. Man scheint Ausschnitte aus dem Innenraum zu sehen – gleichzeitig kann man aber auch ein spitz zulaufendes, gekipptes Dach ausmachen. Statisch lässt sich hier überhaupt nichts mehr logisch begreifen. In allen Ausschnitten scheint das moderne Gebäude eher zerlegt zu werden. Dabei hat Sabine Richter - und dies gilt für alle ihre Arbeiten – keinesfalls arrangierend eingegriffen, eine Bearbeitung hat in keinster Weise stattgefunden. Das muss man ausdrücklich betonen, denn heutzutage traut man der Fotografie ja mittels sämtlicher technischer Trickkisten die völlige Veränderung der Realität zu. Sabine Richter hat aber vielmehr das fotografiert, was sie gesehen hat, was auch wir hätten sehen können, in einem bestimmten Raum, zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Lichteinfall – was wir aber meistens nicht wahrnehmen. Denn diese besondere Situation ist ja quasi einmalig, singulär, verändert sich im Standort- und Lichtwechsel, kippt bei jeder kleinsten Bewegung in eine andere Erscheinung.

Ich zitiere den Medien- und Kulturtheoretiker Mark Ries, der sich intensiv mit Richters Arbeiten auseinandergesetzt hat:„Zu sehen sind unkörperliche Fotografien unkörperlicher Spiegelungen (unkörperlich deshalb, weil sie als reine Oberfläche in den Blick kommen), die nicht existieren, sondern insistieren, sie insistieren darauf, dass sie nicht Abbilder von Architektur-Ideen, also –konstruktionen sind, sondern simulakren mit Oberflächenwirkungen, die nicht die Frage nach einem sein stellen, sondern die nach einem aliqid, einem ETWAS. Etwas passiert auf einem spiegelnden Glas, das keine Identität/Idealität beansprucht, sondern von dem Betrachter die Bereitschaft abverlangt, sich auf eine paradoxe Welt einzustellen“.

Dass das Licht wie Pinsel und Farbe gebraucht werden kann, zeigt sich besonders eindrucksvoll in der Reihe „Magenta“, die in der Neuen Messe in Graz entstand. Wenn Sie beschreiben müssten, um was sich hier handelt, würden Sie wahrscheinlich sagen: magentafarbene Stelen bzw. hochkant stehende Quaderblöcke in einer großen Betonhalle – und lägen damit doch falsch. Denn Sabine Richter hat hier während der Bauzeit nur 80 cm hohe hölzerne Kabelschacht-Abdeckungen gesehen, auf die von rechts durch die Glaswand als Reflexion das farbige Licht der gegenüberstehenden Messehalle fiel. Dabei handelt es sich um jene Messehalle von Klaus Kada, die Sabine Richter in „insight-out“ aufgenommen hat. Nichts ist so, wie man denkt. Farbe ist nur einen Moment vorhanden, die Verhältnisse von tatsächlicher Größe und fotografischer Perspektive führen zu einer nachhaltigen Verunklärung des Bildes. Es stellt sich zwangsläufig die alles übergreifende Frage, ob wir das, was wir sehen, auch richtig deuten können? Die Vermischung von Illusion und Bild ist optisch nicht fassbar. „Das fotografierte Bild als Metapher für einen Schwebezustand zwischen Realem und Imaginärem“, diese Zuordnung gibt die Künstlerin selber ihren Werken.

Die Serie „screen“, aufgenommen am Institut für Pflanzenphysiologie in Graz, besteht aus 250 Einzelbildern, die gleich einer filmischen Sequenz, die Lichtreflexionen wiedergibt, die auf einer 4-geteilten ca. 8 x 5 m großen Metallfläche entstehen. Sie fängt das Licht auf, das von der Oberfläche des im Zick-Zack geführten Verbindungssteges reflektiert wird. Im Verlauf der Zeit entstehen wandelnde Konstellationen von Farben und Formen. Das Licht transformiert die Architektur in eine abstrakte Komposition, die Wandfläche wird zum Bildträger. Zugleich gegenständlich und abstrakt wird dieser vermeintliche Gegensatz völlig aufgehoben. Gerade im Durchspielen solcher Bildreihen wird Aufmerksamkeit für kleinste Bewegungen geschaffen, für die flüchtigen Momente.

Sabine Richter ist eigentlich Bildhauerin. Die gebürtige Coburgerin hat an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg das klassische Arbeiten mit Hammer und Meißel gelernt und diese Richtung zunächst auch als Künstlerin eingeschlagen. Ihr Weg zur Fotografie hat sich eher zufällig über die Wahrnehmung von Lichtsituationen ergeben und seit nunmehr vielen Jahren benutzt sie hauptsächlich die Kamera, zunächst eine Polaroid dann eine Spiegelreflexkamera, heute fotografiert sie auch digital. Ihre Fotodrucke werden auf Aluminium aufgezogen und von rahmenlosem Plexiglas bedeckt. Sabine Richter ist auch lehrend tätig und zwar am Lehrstuhl für Kunstpädagogik an der Universität Erlangen/Nürnberg. In zahlreichen Einzelausstellungen auch auf internationaler Bühne kann man ihren fotografischen Werdegang verfolgen.

Die thematischen Leitlinien sind immer wieder : Körper, Raum, Architektur in ihrem Verhältnis von Innen und Außen, das Verhältnis von Raum und Umraum, zum Licht. Die Durchdringung verschiedener Ebenen und Dimensionen, Räumliches in die zweidimensionale Fläche zu bringen, beschäftigt sie schon mehr als 20 Jahre. Ihre künstlerischen Bezüge sind nicht von ungefähr bei El Lissitzky und dem russischen Suprematismus zu sehen; das Konstruktivistische, die Ästhetik von Struktur und Raster ist in ihren Fotos allgegenwärtig. Sie arbeitet mit der Zersplitterung der Formen oder mit homogenen Feldern gleichartiger Bildelemente, die ihre Nähe zur konkreten Kunst offenbart ebenso wie ihre Begeisterung für deren klare, elementare und intensive Bildsprache. Aber, Sabine Richter bewahrt den tatsächlichen Bezug zur Realität; das, was die konkreten Künstler in einer geistigen Sphäre beschäftigt hat, wird in die alltägliche Welt zurückgeholt, gedankliche Vorgänge bleiben nicht abstrakt, sondern sind in der Realität anschaulich vorhanden.
Bei manchen Fotos lassen sich durchaus Parallelen zu malerischen Positionen finden – das fand ich eigentlich sehr verblüffend - , sei es, dass man bei „espace“ an die Farbräume eines Marc Rothko denkt oder in ganz anderer Richtung die Arbeit „buda“ mit Paul Klee assoziiert. Sie haben möglicherweise schon einmal Paul Klees „Haupt- und Nebenwege“ gesehen: aufgebaut in einem linearen Gerüst, das nach rationalen Gesetzen angelegt ist. Im Sinne einer kontinuierlichen Tiefengliederung verjüngen sich horizontale und vertikale Streifen von nah nach fern. Klee hatte sich ja gerade in seiner Bauhauszeit in technologisch-rationalistischem Denken geübt und dies in einer „Bildnerischen Gestaltungslehre“ für den Unterricht formuliert. Sabine Richters „buda“ wäre ein anschauliches Beispiel für solcherlei Denkprozesse. Zu meinen Lieblingsbildern zählt das quadratische Bild „treppe““ aus einem Haus in Italien: es ist eigentlich eine ganz banale Situation erfasst: eine Treppe, die in einen unteren Raum führt. Diese reale Gegebenheit wird allerdings überführt in eine abstrakt-kristalline Flächenkomposition, der Raum wird in die Fläche gebracht und zeigt sich als dunkler Rahmen aus dunklen Wand- und Treppenstufen, in das ein verschobenes helles 6-Eck einbeschrieben ist, seinerseits zusammengesetzt aus geometrischen Wandflächen und weiteren Flächen der Treppenstufen, die von einer nicht sichtbaren Lichtquelle erhellt werden. Fast irreal erscheint das helle Blau des linken Dreiecks.
Sabine Richter nennt ihre Arbeiten auch Konstellationen und bezieht sich dabei auf Prof. Gomringer, der eben jene Kunst der Konstellationen als Wahrnehmung vom Zusammentreffen bestimmter Umstände hier in diesen Arbeiten so hervorragend geglückt beschreibt.

Zum Licht gehört der Schatten, der sich mit den Objekten verzahnt und ebenfalls eine Transformation der Ausgangssituation bewirkt. Schatten ordnen unseren Raumeindruck, sie tragen aber auch das Moment des Geheimnisvollen in sich, wenn etwas, das nicht im Bild ist, nur durch den Schatten präsent wird: flirrende Schatten von Bäumen wie in den Bilder „espace“, nicht identifizierbare Schatten, das Geheimnis bewahrend, in „floating“. Der Titel der gesamten Ausstellung verweist ebenfalls auf den Schatten: -Schattengeviert-, ein Begriff, der einem Gedicht Paul Celans entnommen wurde. Der Schatten ist ja etwas Immaterielles und doch an Reales gekoppelt. Er überträgt den dreidimensionalen Körper in die 2-dimensionale Fläche. Im Sinne eines Vergeistigungsprozesses von 3 nach 2 steht er in poetischer Weise für die Suche nach Essenz aus der Wirklichkeit. Und so sind der Schatten und Sabine Richter Seelenverwandte!