Barbara Leicht M.A. | Kunstmuseum Erlangen
Eröffnung der Ausstellung "Sabine Richter – aliquid"
Galerie ortart | 25. März 2011


Fotografie nimmt besonders in Tagen apokalyptischer Zustände eine ganz besondere Stellung in unserer Wahrnehmung ein. Gerade dann sollten wir unsere eigenen Sehgewohnheiten und Reaktionen bei den Bildern der Berichterstattung über aktuelle Vorkommnisse einmal beobachten und bewerten.
Denn Bilder des Schreckens berühren uns emotional zutiefst und Fukushima und die zerstörten Städte Japans werden wohl neben den Bildern des 11. September 2001 für immer in unserer Erinnerung gespeichert sein. Katastrophen und Sensationsbilder setzen völlig andere Empfindungen und Erwartungen in uns frei, als künstlerische Fotografien dies tun.
Die Bilderflut, die sich tagtäglich über uns ergießt, macht es uns nicht unbedingt leicht, zu selektieren und wahrzunehmen und uns eine gewisse Kritikfähigkeit vorzubehalten. Wie viel Lebens- und Bildrealität ist überhaupt noch spürbar? Inwieweit werden wir in unserem Denken und Handeln durch diese Bildwelten manipuliert? Was ist wahr? Was wurde zensiert, was geändert? Und was überhaupt können wir noch glauben, wenn wir es nicht mit eigenen Augen gesehen haben?

Zu diesen alltäglichen Bildern zeigt uns die Fotokünstlerin Sabine Richter eine Gegenwelt, die uns, wenn möglich, sensibilisieren soll, optische Informationen besser wahrzunehmen. Die Künstlerin arbeitet, ohne dabei Menschen zu zeigen. Er ist in ihrem Formenvokabular immanent, denn er hat schließlich die Welt der artifiziellen Objekte erschaffen.
Beim Studium des Oeuvres von Sabine Richter, wird schnell klar, dass man ihre Werke eher in konstruktivistischen Gefilden der Kunst findet. Der Konstruktivismus zu Beginn des 20. Jh. fußte auf der Negierung traditioneller Bildsprachen und generierte neue Inhalte, die sich auf geometrische Formen konzentrierten. Der Konstruktivismus hat bewirkt, dass die Umwelt unter anderen Vorzeichen gesehen werden kann. Nicht mehr der Gegenstand steht bei dieser Sichtweise im Vordergrund Sabine Richter holt Elemente des Konstruktivismus in die Dingwelt hinein und enthebt unsere Umwelt ihrer immerwährenden Erkennbarkeit. Sie trennt diese Elemente aus ihrem logischen Verbund heraus und lässt sie über ihre eigentliche Funktion hinwegtäuschen und Formen und Strukturen sprechen. Die Grenzen zwischen den Begrifflichkeiten konstruktivistisch, konkret, gegenständlich und ungegenständlich zerfließen.
Richters Auffassung ist es, alles so zu zeigen, wie sie es vorfindet und unplugged zu fotografieren, ich meine damit, nichts digital zu manipulieren. Durch ein neues Vokabular, sekundär verwandt aus bestehenden Strukturen, bietet sie uns eine Erweiterung unserer Sehgewohnheiten an. Darin sind wir nicht unbedingt trainiert und plötzlich beginnen wir nach dem Ort, dem Sinn und dem Zweck der Dinge auf den Fotografien zu suchen.
Irritationen entstehen, die man als eine Sonderform der Trompe-l’oeils, der Augentäuschereien bezeichnen könnte. Bilder, die uns einerseits bekannt vorkommen, andererseits tief in den Genuss ihrer Betrachtung ziehen, da wir sie nicht sofort mit unserem ersten Blick dechiffrieren können. Wir müssen erst einmal über die Verortung des Dargestellten und unsere eigene Lokalisierung nachdenken, obwohl Statik und Stabilität in den durch architektonische Elemente geprägten Werken nicht in Frage gestellt werden. Dies ist meines Erachtens ein wichtiger Aspekt der hier gezeigten Arbeiten. Ein weiterer Aspekt ist Sabine Richters Finden und Erkennen von Ordnungssystemen, die eine Architektur gliedern oder den Mikro-Makrokosmos technischer Umgebung definieren.
Der dritte Aspekt ist Richters Spiel mit Materialien und Oberflächen. Lichtspiele und Transparenzen, die eben nicht durch Doppelbelichtungen, sondern durch Spiegelungen oder Schattenwürfe als Phänomene entstanden, dematerialisieren tonnenschwere Architekturen zu illusionistischen Gebilden. Nichts auf ihren Bildern ist planbar oder geplant, vielleicht nur der Besuch einer Location. Vieles ist abhängig von der momentanen Situation des Blickwinkels, der Atmosphäre und des Lichts. Der Zufall spielt eine nicht unbedeutende Rolle im Werk von Sabine Richter.


Beispielsweise die Serie Magenta. Eine Serie von statuarischen Anmutungen, einer Serie irritierender Erscheinungen. Nichts ist hier Magenta, kein Farbkorn dieser Art befand sich auf der eigen anmutenden Objektformation. Sabine Richter hatte keinen weiteren Gehilfen, außer einer besonderen Lichtsituation, die Farbe durch eine Glasfassade auf ein Ensemble relativ kleiner, nur etwa 80 cm hoher Kabelschächte projizierte. Der Schein trügt uns also, wenn wir meinen, einen Stelenwald der Größe des Berliner Holocaust-Mahnmals zu sehen. Beim Betrachten der Serie fällt auf, dass ganz bewusst nicht nur perfektes Material verwendet wurde. Einige der Bilder sind stark verpixelt, an sich ein Unding in einer Schau wie dieser. Jedoch verleiht gerade diese Unschärfe der Serie eine Art malerischen Charakter, sie weicht die Starre auf und löst bis zu einem gewissen Grad den Realismus des Gegenstands auf. Diese Serie wurde übrigens mit einer Digitalkamera im Hosentaschenformat aufgenommen. Um eine spannende Serie zu erhalten, muss also nicht zwingend zu viel Datenmenge erzeugt werden.
Zum Thema Ordnungen und Systematik verwundert es nicht, dass Musik eine weitere, wichtige Inspirationsquelle der Künstlerin ist. Dies hat neben ihrer Liebe zur Musik vieler Epochen besonders mit dem Aufbau einer Komposition zu tun, deren Strukturen, Rhythmen und Takte ähnlich wie bei einem konstruktiven, bildnerischen Gefüge eigene Ordnungen entwickeln. Die Verbindung von Kunst oder Architektur und Musik hat eine lange Tradition (ich nenne hier die Rhythmisierung von architektonischen Elementen des Barock und parallel den strengen Aufbau beispielsweise eines Chorsatzes von Joh. Seb. Bach). Diese Parallelen von Musik und Kunst lassen sich immer wieder finden. Sicherlich hat dies mit der Vernetzung der jeweils zeitgenössischen Kultur zu tun und mit den daraus entstandenen inhaltlichen Verbindungen der Sparten. Daher ist Musik am Abend dieser Ausstellungseröffnung unabdingbar und selbstverständlich.
„Der bildnerische Prozess verlagert sich ins Auge und in den Moment.“ Zitat Sabine Richter.

Die Künstlerin sensibilisiert durch ihre fotografischen Arbeiten den Betrachter, über seine eigene Verortung nachzudenken, über die Dimensionen, die ihn umgeben und über die Relationen der dinglichen Welt. Richter exzerpiert Teile der Realität, die während des Prozesses der Fotografie zu irrealen Gebilden mutieren. Eine Neuformulierung dessen, was uns umgibt. Sie generiert keine Formen, sondern nimmt sie in ihrer Singularität wahr, selektiert und forscht an den Orten, die uns sonst nur als Gesamtkomposition gewahr werden.

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Barbara Leicht M.A., Kunstmuseum Erlangen
Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung „Sabine Richter – aliquid“
Galerie ortart | 25. März 2011

Fotografie nimmt besonders in Tagen apokalyptischer Zustände eine ganz besondere Stellung in unserer Wahrnehmung ein. Gerade dann sollten wir unsere eigenen Sehgewohnheiten und Reaktionen bei den Bildern der Berichterstattung über aktuelle Vorkommnisse einmal beobachten und bewerten.
Denn Bilder des Schreckens berühren uns emotional zutiefst und Fukushima und die zerstörten Städte Japans werden wohl neben den Bildern des 11. September 2001 für immer in unserer Erinnerung gespeichert sein. Katastrophen und Sensationsbilder setzen völlig andere Empfindungen und Erwartungen in uns frei, als künstlerische Fotografien dies tun.
Die Bilderflut, die sich tagtäglich über uns ergießt, macht es uns nicht unbedingt leicht, zu selektieren und wahrzunehmen und uns eine gewisse Kritikfähigkeit vorzubehalten. Wie viel Lebens- und Bildrealität ist überhaupt noch spürbar? Inwieweit werden wir in unserem Denken und Handeln durch diese Bildwelten manipuliert? Was ist wahr? Was wurde zensiert, was geändert? Und was überhaupt können wir noch glauben, wenn wir es nicht mit eigenen Augen gesehen haben?

Zu diesen alltäglichen Bildern zeigt uns die Fotokünstlerin Sabine Richter eine Gegenwelt, die uns, wenn möglich, sensibilisieren soll, optische Informationen besser wahrzunehmen. Die Künstlerin arbeitet, ohne dabei Menschen zu zeigen. Er ist in ihrem Formenvokabular immanent, denn er hat schließlich die Welt der artifiziellen Objekte erschaffen.
Beim Studium des Oeuvres von Sabine Richter, wird schnell klar, dass man ihre Werke eher in konstruktivistischen Gefilden der Kunst findet. Der Konstruktivismus zu Beginn des 20. Jh. fußte auf der Negierung traditioneller Bildsprachen und generierte neue Inhalte, die sich auf geometrische Formen konzentrierten. Der Konstruktivismus hat bewirkt, dass die Umwelt unter anderen Vorzeichen gesehen werden kann. Nicht mehr der Gegenstand steht bei dieser Sichtweise im Vordergrund Sabine Richter holt Elemente des Konstruktivismus in die Dingwelt hinein und enthebt unsere Umwelt ihrer immerwährenden Erkennbarkeit. Sie trennt diese Elemente aus ihrem logischen Verbund heraus und lässt sie über ihre eigentliche Funktion hinwegtäuschen und Formen und Strukturen sprechen. Die Grenzen zwischen den Begrifflichkeiten konstruktivistisch, konkret, gegenständlich und ungegenständlich zerfließen.
Richters Auffassung ist es, alles so zu zeigen, wie sie es vorfindet und unplugged zu fotografieren, ich meine damit, nichts digital zu manipulieren. Durch ein neues Vokabular, sekundär verwandt aus bestehenden Strukturen, bietet sie uns eine Erweiterung unserer Sehgewohnheiten an. Darin sind wir nicht unbedingt trainiert und plötzlich beginnen wir nach dem Ort, dem Sinn und dem Zweck der Dinge auf den Fotografien zu suchen.
Irritationen entstehen, die man als eine Sonderform der Trompe-l’oeils, der Augentäuschereien bezeichnen könnte. Bilder, die uns einerseits bekannt vorkommen, andererseits tief in den Genuss ihrer Betrachtung ziehen, da wir sie nicht sofort mit unserem ersten Blick dechiffrieren können. Wir müssen erst einmal über die Verortung des Dargestellten und unsere eigene Lokalisierung nachdenken, obwohl Statik und Stabilität in den durch architektonische Elemente geprägten Werken nicht in Frage gestellt werden. Dies ist meines Erachtens ein wichtiger Aspekt der hier gezeigten Arbeiten. Ein weiterer Aspekt ist Sabine Richters Finden und Erkennen von Ordnungssystemen, die eine Architektur gliedern oder den Mikro-Makrokosmos technischer Umgebung definieren. Der dritte Aspekt ist Richters Spiel mit Materialien und Oberflächen. Lichtspiele und Transparenzen, die eben nicht durch Doppelbelichtungen, sondern durch Spiegelungen oder Schattenwürfe als Phänomene entstanden, dematerialisieren tonnenschwere Architekturen zu illusionistischen Gebilden. Nichts auf ihren Bildern ist planbar oder geplant, vielleicht nur der Besuch einer Location. Vieles ist abhängig von der momentanen Situation des Blickwinkels, der Atmosphäre und des Lichts. Der Zufall spielt eine nicht unbedeutende Rolle im Werk von Sabine Richter. Beispielsweise die Serie Magenta. Eine Serie von statuarischen Anmutungen, einer Serie irritierender Erscheinungen. Nichts ist hier Magenta, kein Farbkorn dieser Art befand sich auf der eigen anmutenden Objektformation. Sabine Richter hatte keinen weiteren Gehilfen, außer einer besonderen Lichtsituation, die Farbe durch eine Glasfassade auf ein Ensemble relativ kleiner, nur etwa 80 cm hoher Kabelschächte projizierte. Der Schein trügt uns also, wenn wir meinen, einen Stelenwald der Größe des Berliner Holocaust-Mahnmals zu sehen. Beim Betrachten der Serie fällt auf, dass ganz bewusst nicht nur perfektes Material verwendet wurde. Einige der Bilder sind stark verpixelt, an sich ein Unding in einer Schau wie dieser. Jedoch verleiht gerade diese Unschärfe der Serie eine Art malerischen Charakter, sie weicht die Starre auf und löst bis zu einem gewissen Grad den Realismus des Gegenstands auf. Diese Serie wurde übrigens mit einer Digitalkamera im Hosentaschenformat aufgenommen. Um eine spannende Serie zu erhalten, muss also nicht zwingend zu viel Datenmenge erzeugt werden. Zum Thema Ordnungen und Systematik verwundert es nicht, dass Musik eine weitere, wichtige Inspirationsquelle der Künstlerin ist. Dies hat neben ihrer Liebe zur Musik vieler Epochen besonders mit dem Aufbau einer Komposition zu tun, deren Strukturen, Rhythmen und Takte ähnlich wie bei einem konstruktiven, bildnerischen Gefüge eigene Ordnungen entwickeln. Die Verbindung von Kunst oder Architektur und Musik hat eine lange Tradition (ich nenne hier die Rhythmisierung von architektonischen Elementen des Barock und parallel den strengen Aufbau beispielsweise eines Chorsatzes von Joh. Seb. Bach). Diese Parallelen von Musik und Kunst lassen sich immer wieder finden. Sicherlich hat dies mit der Vernetzung der jeweils zeitgenössischen Kultur zu tun und mit den daraus entstandenen inhaltlichen Verbindungen der Sparten. Daher ist Musik am Abend dieser Ausstellungseröffnung unabdingbar und selbstverständlich. „Der bildnerische Prozess verlagert sich ins Auge und in den Moment.“ Zitat Sabine Richter.

Die Künstlerin sensibilisiert durch ihre fotografischen Arbeiten den Betrachter, über seine eigene Verortung nachzudenken, über die Dimensionen, die ihn umgeben und über die Relationen der dinglichen Welt. Richter exzerpiert Teile der Realität, die während des Prozesses der Fotografie zu irrealen Gebilden mutieren. Eine Neuformulierung dessen, was uns umgibt. Sie generiert keine Formen, sondern nimmt sie in ihrer Singularität wahr, selektiert und forscht an den Orten, die uns sonst nur als Gesamtkomposition gewahr werden. Die Fotografien der Künstlerin fungieren wie eine Art Membrane zwischen Betrachter und real Greifbarem. So scheint sich in den Arbeiten das Kontinuum von Raum und Zeit aufzulösen. Sabine Richter zeigt „Etwas“, was keine Terminologie beschreiben kann. Allenfalls können wir versuchen diesen Zustand mit dem dinglichen Sein zu umschreiben. Dieses Etwas, lat. „Aliquid“ zeigt Ferne und Nähe zugleich, zeigt Vertrautes und Illusionen, zeigt optische Phänomene, kurze Augenblicke, kleine Ausschnitte aus der schier unendlichen Dingwelt. Sabine Richter beweist in ihren Arbeiten, dass nicht alles, was man sieht, greifbar sein muss und begreifbar sein kann.