Werner Wolf
Zu Sabine Richters fotographischen Arbeiten
Kunsthaus Rehau, ikkp
2006



Meine Damen und Herren!
Das Zeitalter, in dem wir leben, wird als das technologische bezeichnet; besser vielleicht, als das Zeitalter des Lernens, die Epoche des Wissens, die Aera logischer Verknüpfungen, gedanklicher Parallelwelten.
Die Unvollkommenheit der Benennung des Zeitalters als bloß technologisches ist – so im Jahre 1982 der Redner Paul Lohse in einem Vortrag über „Kunst im technologischen Raum“ – gleichbedeutend mit der Entstehung eines „neuen Bildes der Welt“.

Damit ident sind – so der Konstruktivist Lohse weiter – ein für diese Zeit charakteristisches Vokabular und ein Instrumentarium von Methoden, Systemen, Verhaltensweisen, ein Arsenal von Ausdrucksformen, die das Leben der Menschen bereits für eine Epoche geprägt haben und weiter prägen werden. Eine Realität mit unverwechselbaren Mitteln, mit einem neuen Raum-Zeit-Bewußtsein ist nur in diese Epoche möglich. Eine Epoche, die wenig konkret ist und sehr gedanklich konzipiert.

Sie sind umgeben, meine sehr verehrten Damen und Herren, von modernen Architekturen, meist nebulos verwirrten und irrlichternden Verstrebungen von Bauten, die Sabine Richter mit einer ihrer Kameras abgebildet hat. Sie sehen im angrenzenden Raum 5 Arbeiten aus der Fotoserie insight-out über die Stadthalle Graz des Architekten Klaus Kada und drei Fotografien eines Neubaus der Architeken Baumschlager –Eberle in Dornbirn. An der Strinseite des Eingangsraumes eine zweiteilige Arbeit, auf der die Stützen eines Hauses in Krakau abgebildet sind. Links daneben das Äußere eines Hauses in Bordighera und das Innere eines Betondachs des nordischen Pavillons Venedig. Rechts vom Eingang sehen Sie Fotoarbeiten des Museum Espace de l’Art Concret in Mouans-Sartoux.

Es sind von Computern unbearbeitete Fotografien, teils auf Film, teils auf digitalen Datenträgern festgehalten. Unbearbeitet heißt hier, sie sind durch kein fotografisches Programm gelaufen. Das hätte auch wenig Sinn gehabt, ist doch das fotografische Verfahren, ein Bildverfahren wie die Malerei, wie die Grafik, die Bildhauerei ebenfalls, die in der Zeit der Computer gestützten Verfremdungskunst zu einem einfachen, und trügerisch fälschungsunsicheren Verfahren geworden ist.

„Vor allem in der Ähnlichkeit der Methoden, der Masswerte und Grundmuster, im Ablauf von zeitliches Arbeitsvorgängen wird die neue Signatur vom Heute erkennbar“, sagt Richard Paul Lose weiter. Und: „Jede Methode ist in der Zeit, in der sie entsteht, determiniert und drückt sich durch eine originale Struktur aus: Summe aus Sein, Bewusstsein und Aktion. „Wir würden heute hinzufügen: und aus Zufall.

Ich habe Sabine Richter fast sieben Jahre begleitet, und weiß daher ein bisschen etwas von der Regelhaftigkeit des Zufalls und davon, das „..ein Würfel-Wurf niemals den Zufall abschaffen wird“.

Stephan Mallarmee hat diesen Satz 1987 geschrieben: „Un coup de des jamais n’ abolira le hasard“. – „Ein Würfel-Wurf wird niemals den Zufall abschaffen.“ Professor Eugen Gomringer hat vor anderthalb Jahren in Graz gemeint, dass sich eine gedankliche Zuordnung von Begriffen der exakten Naturwissenschaften zu bestimmten Künstlern herausgebildet habe, die zu so etwas wie Metaphern der Allgemeinheit wurden: Max Bill werde das Möbiusband zugerechnet, Victor Vasarely der Algorithmus, Karl Gerstner die Polychromie und die Fraktale, Hans Jörg Glattfelder die nicht-eukidische Metapher, Jo Niemeyer der Goldene Schnitt, Alfons Kunen die logharithmische Spirale und Hellmut Bruch die Fibonacci-Zahlenreihe.

Mit solchen Zuordungen werden Denkhilfen konstruktiver Konzepte zu bekannten Formen gezogen, die es auch dem Aussenstehenden erleichtern, Zugang zu finden und Konzepte nachzuvollziehen. Und Sabine Richter nachvollziehbares Konzept? Ist in ihren Fotoarbeiten so etwas wie ein gemeinsamer Zug enthalten?
Wir können uns diesem Fragenkomplex vielleicht etwas nähern, wenn wir die lästige Übung vergessen, das fotografische Abbild sei ein Abbild der Natur. Es spiegle sozusagen wider, was in der Natur so und nicht anders vorhanden ist.

So ist es vorhanden, und unendlich in seiner Vielfalt ist das Andere!

Wir haben uns angewöhnt, in zweifacher Hinsicht die Fotographie zu lesen: einerseits in einem höchstmöglichen Ausmaß von allgemeingültiger Fassung, von zweifelfreiem Zuschnitt und größtmöglicher Genauigkeit.

Und zweitens: in einer Vielfalt von Bedeutungen, charakteristischen Haltungen und zweifelhafter Eindeutigkeit.

Es gelingt Sabine Richter – zu dem Schluss gelangt Marc Ries nach einer Reise durch Sabine Richters und seine eigene Befindlichkeit – in subtiler Weise eine unauflösbare Vibration zwischen aussen und innen, zwischen Gespiegeltem und Realem zu initiieren. In seiner ebenfalls in Graz gehaltenen Rede zu „insight out“ ortet Marc Ries ein Spiel der Zeichen, das uns mit einer ungewöhnlichen Evidenz vertraut macht, der Evidenz der Uneindeutigkeit, der Unschärfe der Bedeutungen, die allerdings – und so schließt Marc Ries, sehr gut in unsere Zeit passe, bedenkt man den Bilderstreit, der sich zur Zeit überall dort entfacht, wo es um alte Wahrheiten statt um neue Freiheiten gehe.

Ich habe Sabine Richter einmal gefragt, ob sie nicht dem Zweifel zu erliegen drohe, als Bildhauerin – bewaffnet mit Steinbohrern und einem ganzen Arsenal von Meisseln aus gehärtetem Stahl, sich letztlich ein so leichtes Medium wie das der Fotographie ausgesucht zu haben. Sie gestand ein, dass sie nach wie vor von der Schwere, dem Gewicht des Materials sehr abhängig sei, und dass es sie schmerze, dass um sie nicht der Stein absplittere, mit jedem Schlag ein paar Gramm Gestein von dem Alter eines Gebirgszuges.
Ist das nicht ähnlich, eines dem anderen? Die Masse des Gewichtes der Berge in ihrer Darstellung als Malerei, als Kreidefelsen, als Fotografie, als Druck?

Kommen wir wieder auf Richard Paul Lohse zurück. Die Meinung – so sagte er es in seiner Rede zur Kunst im technologischen Raum – dass die sichtbare Realität das einzig mögliche Thema der Kunst sei, ist angesichts der Wirkungsweise des Instrumentariums dieser Epoche ein Anachronismus.

Diese Feststellungen wären unnötig, wenn es die progressiven politischen Kräfte nicht versäumt hätten, sich mit diesen fundamentalen Problemen der Gegenwart zu befassen, deren Ausklammerung mit eine Folge ihrer Isolierung ist.
Beim Fotografieren ihrer Sujets interessiere sich Sabine Richter für die sich selbst erzeugende Form; eine Form, die ein mosaikartiges Konglomerat aus räumlichen Emotionen und Gefühlen eingeht. Dies sagt Adam Budak, der Kurator einer Ausstellung in Krakau und Autor eines Katalogtexte zu Sabine Richters Arbeit.

„Zu scheu um seine vollständige Gestalt auszudrücken, zu zart um seine geheimen Winkel preiszugeben, ist der Raum (und die Zeit...) von einem Netz unsichtbarer Gesten bedeckt und erscheint nur ganz unversehens und unerwartet, gleich einem unbemerkten und unschuldigen Gesichtsausdruck, der innere Wahrheiten und Sehnsüchte verrät.“

Und weiter heißt es bei Adam Budak: „Zwischen Instabilität und Gleichgewicht, friedlicher Stille und eruptiver Dynamik, erscheint das Architektonische als Fragment oder Spur, als ein Beweis für Solidität und als poetisches Element, das hinter verführerischen Krümmungen lauert, wo das Licht sich mit seiner wandelbaren Intensität verschwört.“

Sabine Richter fetischisiere die Oberfläche, verwandele sie in eine Projektionsfläche der Erinnerung, auf der sich eine Spiegelung vollzieht und - verstärkt durch den ungewöhnlich großzügigen Blick der Künstlerin - eine neue Erzählung beginnt. Dies ist ein Spiegel der Gegenwart, der sublimierte Versuch, die Zeit einzufrieren und sie im Rahmen einer fotografischen Wirklichkeit zu prägen.
Bei Sabine Richter ist es in der Tat die Kongruenz der Bildaktion, die Unmittelbarkeit und die Thematik, ein neuer Zeitbegriff, das Bild als Struktur und eine neue Dimension der Mittel . Parallelen zu den Formen und Wirkungen der Zeit, so wie Richard Paul Lohse es erkannte.
Bei Sabine Richter passiert aber mehr noch; sie zwingt Steinbalken zu unerwarteter schwebender Leichtigkeit, bei ihr scheinen beschattete Wände wie hauchzartes Papier zu immer neuen Faltungen bereit, immer zu neuen Architekturen ist ihre Kamera bereit: sie formt um, deutet senkrecht als waagrecht, fügt dem geschwungenen Boden im Bild eine abermalige Schwingung zu, macht so mehr, verdoppelt, zerstört, schöpft aus Vorhandenem neu, macht in der Vervielfältigung mehr aus dem Bestehenden, oder sie verzichtet auf die Vielfalt im Bild.

In das Werk der Künstlerin haben Einflüsse aus westlicher aber auch aus östlicher Kunst Einzug gehalten. In der Überzeugung, dass es keinen Bruch gibt zwischen der Natur, der Kunst, der modernen Errungenschaften eines eigentlich von Software getragenen Lebens und dem Leben des Menschen, und dass die Bewegungen des eigenen Lebens sich in dem komplizierten Aufbau eines Blattes, eines Flügels, einer Flosse genauso spiegeln können, wie im in der Zeichnung eines alten Holzes, deckt Sabine Richter in ihren Bildern die den meisten Elementen des Lebens zugrundeliegenden Strukturen, Strömungen, flirrenden Muster und sich verändernden Ordnungen auf.
Wenn es um gedankliche Zuordnung von Begriffen des Alltäglichen geht, um einen Begriff, der aussagt, worum es bei Sabine Richters Bildverständnis, das aus dem Konstruktiven sich ableitet, geht, dann ist es die Aufhebung eines Begriffs, der sich von Mathematik oder Geometrie ableitet. Eine Leichtigkeit ist dem ebenso eigen, wie die Flüchtigkeit des Augenblicks. Vielleicht ist es das: „Der Zufall“?

Mallarmee Satz „Ein Würfelwurf wird niemals den Zufall abschaffen“ hat den Künstler Daniel Spoerri lange beschäftigt: Das Beunruhigende dieses Satzes ist ja seine scheinbar absurde Aussage, dass ein Würfelwurf, der doch der Inbegriff des Zufalls ist, den Zufall nicht abschaffen wird. Aber genau das sagt er, diese geniale Satz, den Spoerri anlässlich seines Ausstellung im Museum der Wahrnehmung ausgesprochen hat: Das Immerwährende, das Absolute und Ewige ist der Zufall. Wir werden ihn nie ergründen. Wir werden ihn nie abschaffen. Nicht einmal zufällig. Niemals wird der Zufall den Zufall abschaffen.
Und Spoerri kommt zu einem weiteren Schluss: Dass der Zufall eigentlich das sicherste, das absolute Prinzip sei, dies sei von einhundert oder mehr Jahren eine geradezu revolutionäre prophetische Behauptung gewesen, da doch fast alles sicher und geordnet zu sein schien.
Aber gerade an diesem Punkt brach alles ein: Die Kaiserreiche, die Politik, das Weltbild. Einstein entdeckte die Relativität. Die Kunst reagierte als Seismograph. Dadaismus und Kubismus, die abstrakte Kunst bewiesen das buchstäblich aus den Fugen geratene Weltbild. Weltkriege ließen erst recht alles einstürzen und so stehen wir da, hoffen und wollen an einen Sinn glauben, - und können es nicht. Es ist dieselbe Kraft, die uns am Leben belässt, die jeden Hund von sich selbst überzeugt sein und die jeden Baum wachsen lässt.

Jeder kämpft um mehr Licht, wie schon Goethe sagte. Vielleicht wollte er uns das noch zuletzt mitteilen. Der Sinn des Seins ist das Sein selbst und sonst gar nichts, wie Marlene Dietrich es sang und wie Sabine Richter es fotografiert.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

 

Werner Wolf
Einführung zur Ausstellung Sabine Richter - Fotoarbeiten
Museum der Wahrnehmung, Graz
2001



Als vor fünf Jahren der Doyen der sich damals Kybernetik nennenden Wissenschaft von der Funktionsweise des menschlichen Wahrnehmungs- und Denkapparates Heinz von Foerster dieses Haus, das nun die Ausstellung von Fotoarbeiten Sabine Richters beherbergen darf, eröffnete, sprach er einen Satz aus, mit dem er das programmatische Ziel des Museums der Wahrnehmung mit großer Deutlichkeit umriss. Heinz von Foerster sagte: "Wir verstehen das Verstehen nicht. Es entzieht sich uns. Es entschlüpft uns, denn wir merken nicht das Unglaubliche, das Rätselhafte, das Erstaunliche, das Wunderbare, das in alltäglichem Gespräch und Reflexion vor sich geht. Erst wenn dieser Strom von Selbstverständlichkeit durchbrochen wird, stehen wir staunend vor diesem Wunder."
Und an anderer Stelle zitiert Heinz von Foerster über den Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit Wilhelm von Humbold mit einer nun fast 200 Jahre alten Feststellung: "Um zu reflektieren, muss der Geist in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick still stehen, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen. Die Einheiten, deren er auf diesem Wege mehrere bilden kann, vergleicht er wiederum unter einander, und trennt und verbindet sie nach seinem Bedürfnis."
Sabine Richter durchbricht in ihren Fotoarbeiten jenen "Strom von Selbstverständlichkeit", von dem von Foerster spricht. Und sie macht das "Unglaubliche, das Rätselhafte, das Erstaunliche" , das uns in der Alltagsrealiät begegnen kann, in ihrer Arbeit sichtbar und nachvollziehbar.
Dann beispielsweise, wenn sie Architekturdetails aus ihrem konstruktiven Zusammenhang löst und ihnen andere Aufgaben zuteilt: Metapher zu sein für Dynamik, für Last und Schwere, Metapher fürs Losgelöstsein, für eine Neudefinition des Raumes und die Gestaltungsfunktion des Lichts. Das individuelle Motiv verliert seine Bedeutsamkeit, die Botschaft lautet nicht "sieh her!" sondern "schaue!"
Sabine Richters Praxis der Dekonstruktion und des Neuarrangements von Wirklichkeit zeigt ihre Nähe zur Konkreten Kunst , zum klassischen Konstruktivismus, mehr noch allerdings zu jenem anderen, gleich benannten Konstruktivismus, der sich als Erkenntnistheorie versteht.
Über diese beiden Konstruktivismen soll hier kurz näher eingegangen werden, nicht aus Begriffsverliebtheit, sondern aufgrund des Umstandes, dass sowohl der Konstruktivismus in der bildenden Kunst wie auch der "radikale Konstruktivismus", wie er in die Erkenntnistheorie, aber auch in die Geschichts- und Literaturwissenschaft und in moderne systemische Therapieformen Eingang gefunden hat, weil also beide Konstruktivismen auf Gesellschaftsmodellen basieren. Auf Gesellschaftsutopien, wie man vielleicht folgern möchte, in jedem Fall ist Konstruktivismus hier wie da gesellschaftspolitisch fundiert. Das macht den Vergleich spannend!
Der Konstruktivismus in der Bildenden Kunst läßt sich auf die ersten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts zurückverfolgen, auf den Russischen Suprematismus und seinen radikalen Bruch mit der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, der Jahrhundertwende, mit dem Wohlgefälligen in der Bildenden Kunst auch dort, wo diese nicht mehr Abbild sein wollte sondern Bildschöpfung.
Der Konstruktivismus der ersten Jahre war futuristisch, brachial, politisch unerbittlich, real, er war intellektuell, geistig ordnend und er spekulierte nicht mit individualistischen Emotionen.
Das war sein Verhängnis. Lenin konnte diesen intellektuellen Zugang zur Kunst nicht für seinen radikalen Populismus instrumentalisieren. Für das politische Entertainment war heroischer, erdverbundener und handgreiflicher Realismus gefragt, Sozialistischer Realismus.
Der Konstruktivismus war zur Emigration gezwungen und fand sich versprengt aufblitzend wieder im Dadaismus, im Bauhausgedanken, viel später in der Op-Art und sehr konsequent weitergedacht in einer sich zunehmend verästelnden internationalen Anhängerschaft.
Dabei ist der Konstruktivismus in der Kunst seiner ungeschwätzigen Sinnlichkeit treu geblieben, er ist weiterhin intellektuell, universell im Anspruch, ordnend, unnaturalistisch und reflexiv. Konstruktivistische oder Konkrete Kunst, die sich formal am geometrischen Zitat orientiert, bringt bislang ungedachtes Konkretes in die Welt, und stellt es dem wahrnehmenden Erkennen vor Augen.
Die physikalische Realität dieses Konkreten ist weitgehend unerheblich, erheblich hingegen ist das Wahrnehmbare, das sich durch intellektuell nachvollziehbare Decodierungssysteme erschließt. Dieser Decodierungsvorgang allerdings ist zugleich die Schwelle, die zu überschreiten nicht einfach ist.
Kein Wunder: Seit Platons Theaithetos gilt die Sokratische Vorstellung:"...Wenn ich wahrnehme, nehme ich ETWAS wahr - es ist unmöglich, wahrzunehmen, ohne dass da etwa wäre, das wahrgenommen wird." Damit ist ein so schlüssiges Schema geschaffen, nach dem Wahrnehmung stattzufinden hat, dass es bis in unsere Tage als Grundlage auch mancher Medientheorien unangefochten seinen Platz behaupten konnte.
Sokrates hat geirrt. Selbstverständlich nehmen wir etwas wahr, ohne dass da etwas wäre, was wahrgenommen wird. Wir haben am Grazer Museum der Wahrnehmung eine Installation realisiert, ein "Deprivationsbad" in dem BesucherInnen beispielsweise schwerelos in einem völlig abgedunkelten, schallisolierten Raum auf gesättigtem Salzwasser bei Körpertemperatur schweben - nahezu vollkommen abgeschirmt von allem, was außerhalb von Ihnen wahrnehmbar ist.
Und wer die Erlebnisprotokolle der BesucherInnen liest, wird aus dem Staunen gar nicht herauskommen, was an Lichtwahrnehmung, Bewegung, akustischen und taktilen Ereignissen von den BesucherInnen vermerkt wurde.
Dieses Deprivationsbad ist für das Museum der Wahrnehmung ein Schlüsselargument für die Plausibilität der zentrale These des radikalen Konstruktivismus, dass nämlich Wirklichkeit Erfindung ist, eine Konstruktion, auf die wir uns aufgrund unserer vergleichsweise identen physischen und psychischen Ausstattung in der Kommunikation mit anderen weitgehend einigen und mit der wir weitgehend leben können. Nicht der Reiz, sondern der Organismus ist für sein Verhalten verantwortlich, saget der Kybernetiker Heinz von Foerster.
Dieser Ansatz kann deutlich machen, dass alle Informationen über die Welt im Prozess der menschlichen Kognition erzeugt werden. Wenn wir also von einer uns gemeinsamen Realität sprechen, gehen wir davon aus, dass sich im Prozess der Kommunikation zwischen Individuen, die über eine vergleichbare Sozialisation und über eine weitgehend identische biologische Ausstattung verfügen, partielle Übereinstimmungen ihrer kognitiven Systeme herausbilden, die vergleichbare Modelle von Realität und damit Konsens erzeugen können.
Diesen gemeinschaftlichen Aspekt der Konstruktion von Wirklichkeit hat auch Ernst von Glasersfeld - mit Heinz v. Foerster einer der bedeutenden Vordenker konstruktivistischer Erkenntnistheorie - hervorgehoben: "Was wir zumeist als objektive Wirklichkeit betrachten, entsteht in der Regel dadurch, dass unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird."
Hier setzt Sabine Richter mit ihrer Praxis der Dekonstruktion und der Irritation an, hier führt sie demonstrativ alternative Wirklichkeiten vor. Das ist ihr Verdienst im Kontext der Begriffsvielfalt der Konstruktivismen.